Mit dem bekannten Spiel, sich Namen-ratend die Zeit zu vertreiben, hat dieser erste Teil der in den Sophiensælen in Berlin uraufgeführten Trilogie nur insoweit zu tun, als es auch um Wissen geht, allerdings nicht um Standard-Wissen – mit einer größeren Stadt mit „H“ an der Unterelbe kann nur Hamburg gemeint sein –, sondern um das im Wandel begriffene Wissen über den Lebens- und Sozialraum Stadt schlechthin.
Danach lautet die Ausgangsfrage des Stücks: Wie wollen wir den Raum, in dem wir zusammenleben, planen, bauen, bewohnen? Diese Geschichte klingt immer anders, je nachdem ob man sie Investor_innen, Stadtplaner_innen, oder zukünftigen Mieter, Alteingesessenen oder Neuankömmlingen, Kleinfamilien oder Mitbewohner_innen im Hausprojekt erzählt. (Programmheft)
Und wie unter einem Brennglas fokussieren sich die Antworten zu: Wer hat das Recht, den Stadtraum zu gestalten und seine Grenzen zu definieren? (Hannes Seidel) idealtypisch in der Entwicklung derjenigen innerstädtischen Quartiere, die aus einer Umnutzung obsolet gewordener Nutzungsstrukturen heraus gewissermaßen im Zeitraffer entstehen. Insbesondere zeigen sich am Typus des exklusiven Hafenquartiers – „Wohnen am Wasser“ – die gesellschaftlich widerstrebenden Ansprüche am Gestaltungs- und Nutzungsrecht der Stadt (Stichwort Gentrifizierung) in aller Schärfe. Der Komponist Hannes Seidl und der Filmemacher und Regisseur Daniel Kötter haben die derzeit entstehende Hamburger Hafencity, das europaweit größte städtische Entwicklungsgebiet, ins Zentrum ihres Szenarios gestellt.
Der in den Sophiensælen bespielte Festsaal war ohne Aufteilung Bühnenraum und Audience in einem. Das Bühnenbild eine Art durchlässiges Labyrinth aus hohen Stellwänden im Baustellencharakter (Raum: Paul Zoller). Quer im Raum sind zahllose elektrische Kabel verspannt, andere hängen in weiten Schleifen lose an den Stellwänden. An ihnen sind außerdem sechzig synchronisierte Monitore in Smartphonegröße angebracht. Der Film, der zu sehen ist, wurde in eben jener Hamburger Hafencity gedreht, allerdings nicht in den bereits belebten, schicken und hochpreisigen Arealen, sondern in einer Übergangsunterkunft für Flüchtlinge auf einer Brache am Baakenhafen zwischendrin. An verschiedenen Stellen des Raums zwischen den Stellwänden bedienen Sebastian Berweck, Martin Lorenz und Andrea Neumann ihr musikelektronisches Equipment.
Als hervorstechendes Merkmal von Stadt (Land Fluss) dürfte die klangliche Realisierung des Stücks zu nennen sein. Sie entstand in Zusammenarbeit mit der Klangkünstlerin Christina Kubisch. Kubisch arbeitet seit Jahren mit der Technik, wonach die physikalische Wechselwirkung von Strom und Magnetismus akustische Resultate zeitigt, die Verklanglichung (Sonifikation) von elektrischem Strom also. Wie Kubisch beispielsweise in Electrical Walks die Wahrnehmbarkeit vom urbanen Raum als eine Vielzahl an verborgenen Netzen von elektrischen Strömen mit Hilfe ihrer speziellen magnetischen Induktionskopfhörer erfahrbar und künstlerisch verarbeitet hat, ist auch das Hörsystem von Stadt (Land Fluss) gebaut. Nur, dass alle akustischen Vorgänge in den im Raum verarbeiteten Kabel gewissermaßen vorher eingespeist wurden oder live eingespeist werden. Mit Induktionskopfhörern, die die Besucher tragen, werden sie wieder empfangen.
„System des Hörens“
Das Besondere an diesem „System des Hörens“, das, wie das Programmheft betont, erstmalig in einer Theaterproduktion eingesetzt worden sei, ist seine Eigenschaft zur akustischen Aufsplittung. Elektromagnetische Felder haben nur eine bedingte – aber steuerbare – Reichweite. Qualität und Lautstärke des Empfangs hängen somit vom Abstand zu einem entsprechenden Feld ab (wohingegen der Lautsprecher einen Raum komplett beschallt). Hören mit dieser Technik ist ein gehendes Hören; im Gehen treffe ich auf ein elektromagnetisches Feld und empfange seinen Sound, im Weitergehen wird er schwächer bis zum Verstummen, vielleicht mischt er sich mit einem neuen Feld usw.
Die Besucher*innen von Stadt (Land Fluss) treffen auf elektromagnetische Felder verschiedener Soundtableaus. Darunter auch elektroakustisches Material, das Kubisch auf ihren Spaziergängen in Großstädten gewonnen hatte und nun für die Produktion beisteuert. Hinzu kommen die Ergebnisse der Musiker*innen Berweck, Lorenz und Neumann. Als dritte Klangebene sind O-Töne aus dem Flüchtlingslager zu hören, Kinderstimmen gemischt mit Erwachsenenstimmen, Fußballspielen, Rufen, Kreischen, die Metallgeräusche aus der Verlegung einer Absperrung; eine vierte Klangebene umfasst statements zur Hafencity – O-Töne einer Stadtethnologin, einem Marketingleiter, Mieter, Wohnungsinteressenten, Diskutanten.
Zunächst passiert bei Stadt (Land Fluss) nichts anderes, als dass das Publikum flaniert, das Geschehen auf den Monitoren verfolgt, die akustischen Ebenen im Gehen erkundet. Die Strukturierung des filmischen wie klanglichen Materials nach Sequenzen und Mustern und die hieraus folgenden Zeitverschiebungen bringen immer wieder neue Kombinationen hervor. Dazu tragen auch die eigene Gehgeschwindigkeiten und -richtungen, Erkundungsstrategien und der Zufall bei – so jedenfalls die Erfahrungen des Berichterstatters, der sich (gut) beschäftigt vorkam, aber niemals erfahren konnte, wie es zur gleichen Zeit zwei Meter entfernt geklungen haben mag und aus welcher akustischen Perspektive derselbe Filmausschnitt auf dem nächstgelegenen Monitor lief.
In die unkoordinierte Publikumsbewegung hinein ist (anfangs fast unbemerkt) eine szenische Ebene eingezogen. Nach und nach werden von drei Performern (Niklas Herzberg, Désirée Sophie Meul, Rune Jürgensen) mit Akkuschraubern die Platten von den Stellwänden gelöst und gestapelt, nur die Rahmen blieben stehen. Die Plattenstapel sind als Sitzgelegenheit gedacht, was seitens des Publikums schnell registriert wird. Parallel dazu werden die drei Musiker*innen, die bislang „Einzelkonzerte“ spielen, zu einem Ensemble zusammengeschaltet. Das Klangtableau verdichtet sich. Der „Abriss“ schreitet voran, bis auf einige stehen gebliebenen Rahmen ist der Raum offen – sinnbildlich für Neuaufbau, wenn sich der (Bühnen-)-Nebel verzogen hat. Nach ca. 70 Minuten endet die inszenierte Installation.
Wissend, dass Themenfelder wie Stadt, Stadtentwicklung, Wohnen per se politische Themen sind, haben Daniel Kötter und Hannes Seidl auf den „kritischen Hammer“ verzichtet. Ohne sich zu verleugnen. Wenn z.B. durch die Verwendung einer 360-Grad-Kamera das Flüchtlingslager plötzlich monumental wirkt, obwohl es, im Vergleich zur nahegelegenen Elbphilharmonie mickrig ist, gilt das den verschobenen Dimensionen in der Stadtentwicklung. Und wenn man im Film Flüchtlinge sieht, dazu im O-Ton einen Hausverwalter der Hafencity vom „Casting“ schwadronieren hört, das man durchgeführt habe, um die richtigen Mieter zusammenzubringen … nun ja, in diesen, wie vergleichbar anderen Momenten, kommt alles an Kritik auf den Tisch, das zum Thema Stadtentwicklung aufzuführen ist.
Das mit dem Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt a.M. und den Sophiensælen Berlin koproduzierte Projekt wird 18.–20. Januar 2018 in Frankfurt a.M. gezeigt.
- Uraufführung am 16.11. 2017 in den Sophiensælen Berlin