Das Leiden an der Kultur ist Conditio sine qua non von Kultur. Dass die europäische Literaturgeschichte geprägt ist von Versuchen, aus den Leiden des Einzelnen kulturelle Produktivität zu gewinnen, gehört zu den Selbstverständlichkeiten, über die von Zeit zu Zeit wieder nachgedacht, gesprochen und geschrieben werden darf. Die Integration entsprechender Erfahrungen gelangte traditionell durch religiöse Funktionalisierung in die Künste bzw. „kulturellen Räume“ oder – insbesondere im Zusammenhang von Krieg, Unterwerfung und Vertreibung – durch Klagen über die von „der Politik“ ausgelösten Verletzungen und Beeinträchtigungen.
Vornan freilich sorgt ästhetische Übertragung und Vermittlung für die Verarbeitung von körperlichen oder seelischen Schmerzen. Für letztere erweis sich das Œuvre des preußischen Juristen, Musikers, Zeichners und Literaten E.Th.A. Hoffmann als bedeutende Fundgrube und Erkenntnisquelle: der Kammergerichtsrat sammelte alle psychologischen bzw. psychoanalytischen Zeitschriften, derer er habhaft werden konnte. Am Vorabend von Sigmund Freuds Offenbarungen über die Seele als menschliche Problemquelle komponierte Jacques Offenbach (gestützt auf ein Schauspiel von Jules Barbier und Michel Carré) „Les contes d’Hoffmann“. In ihnen geht es zuletzt direkt um Glücksverzicht des Subjekts und unverhohlen um die Sublimierung der Triebenergien sowie Domestizierung der Suchtstrukturen.
Der Stern des amerikanischen Regisseurs William Friedkin, so bekundeten Auguren der Filmbranche schon vor Jahren, befinde sich „im Sinkflug“. Dass ein Veteran des Haifischbeckens Hollywood noch Gnadenbrot bei der womöglich als menschlich gütiger geltenden alten Tante Oper bekommt, erscheint prinzipiell nicht verwerflich. Friedkin, in den 70er Jahren bekannt geworden durch Filme wie „French Connection – Brennpunkt Brooklyn“ oder „Der Exorzist“, durfte jedenfalls nicht nur 2008 bei Placido Domingo und zusammen mit Woody Allen in Los Angeles Puccini-Einakter inszenieren, sondern zuvor schon in München mit Kent Nagano die „Salome“ von Oscar Wilde und Richard Strauss im Verbund mit dem „Gehege“ von Wolfgang Rihm präsentieren. Er kann also auch im Hinblick auf die pittoreske Präsentation von Literaturoper auf Erfahrungen zurückblicken.
Vor seiner Inszenierung im Theater an der Wien unterstrich Friedkin, dass sich seine Interpretation des Werks mit „Freuds Deutung der Hoffmannschen Novellen deckt“. Versprochen wurde also zumindest eine Realisierung mit psychoanalytischer Anreicherung des „psychologisch“ apostrophierten Werks. Doch fiel diese eher marginal aus. E.Th.A. Hoffmann, trage – so die ‚geniale’ These – das Böse wie das Gute in sich. Daher wurde sein Gegenspieler, der in Gestalt des Berliner Stadtrats Lindorf, des reisenden Instrumentenhändlers Coppelius, des Münchner Arztes Dr. Miracle sowie des venezianischen Kapitäns Dapertutto auftritt, als Inkarnation des „Bösen“ ebenso angezogen wie er. Auch, soweit dies angesichts der betonten Feminität von Roxana Constantinescu möglich ist, die edel, hilfreich und gut eingreifende Muse, die sich als Reisebegleiter Niklas verkleidet. Wahrscheinlich muss einer aus dem Land kommen, das die „Achse des Bösen“ erfunden hat, um eine derartige Trivialität als künstlerisches Konzept verkaufen zu wollen.
Im Theater an der Wien wird nach der neuen text- und quellenkritischen Bearbeitung des disparat hinterlassenen „Hoffmann“-Materials (Kaye & Keck) gespielt, die bis zur nächsten „Urtext“-Ausgabe als Annäherung an den wechselhaften Willen der Urheber gelten darf. Da in dieser Edition mangels Authentizität z.B. ein Publikumshit wie die „Spiegel“-Arie fehlt, wurde sie der Aufführung vorm geschlossenen Vorhang vorangestellt – gleichsam als Motto. Aha, merkt da ein jeder: es geht nicht nur um die die Seele als menschliche Problemquelle im Allgemeinen, sondern um Spiegelungen im Besonderen. Und dann geht der Lappen hoch: Arrangiert um eine von Akt zu Akt sich verschiebende leicht exzentrische Show-Treppe und unterstützt von Video-Einblendungen treten verschiedene Personengruppen in heutiger Alltagskleidung auf. Dadurch wird die optische Oberfläche der aus dem späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert stammenden Geschichten ins 21. übertragen. Die Blondinen der Festgesellschaft beim Physiker Spalanzani und dessen unnatürlicher Tochter Olympia kommen mitsamt ihren aufgescheuchten Begleitern z.B. wie zur Oscar-Verleihung in Los Angeles.
Doch geht es in dieser Opéra-fantastique nicht um ein Mirakel Hollywoods, sondern um einen Musik- und Tanzautomaten der Rokokozeit. Olympia wurde von Curry/Friedkin gedoppelt: sie schwebt als Konstruktions-Puppe über der vorzüglich trippelnden, quinquilierenden, dazu hübsch und oft mit den Augendeckeln klimpernden Mari Eriksmoen. Sie hängt da so übergroß und demonstrativ, damit der betrogene Coppelius seine Zerstörungswut auslassen kann. Aris Argiris, der in Wien die Rollen der „Bösewichter“ bestreitet, konnte bei seinem ersten Auftritt als niederländischer Reisevertreter für Thermometer, Hygrometer, Barometer etc. dem liebestollen jungen Hoffmann eine Brille andrehen und singt dabei von den „Augen“, wo er die gefärbten Gläser meint. Friedkin tritt Barbiers Wortwitz breit, indem er den verschlagenen Geschäftsmann mit zwei an Sehnen und Nervensträngen baumelnden Augäpfeln hantieren lässt. Das mag in Großaufnahme im Breitwandkino einen leisen Schauder oder Ekel auslösen. Auf der Opernbühne wirkt es wie verstaubte Folklore.
Aus deren Geist wurde auch die Bildwelt für den Giulietta-Akt entwickelt: Im Hintergrund ein Palazzo in Schieflage (fast wie die ‚Costa Concordia’), davor Lagune mit Gondeln und am Lido eine Strandbadeanlage, in der auf die eine oder andere Weise geschäftige Vorbereitungen für den Geschlechtsverkehr getroffen werden. Da also verübt der durch den mysteriösen Tod der angebeteten Sängerin Antonia aus der Bahn geworfene Literat Hoffmann zwei Tötungsdelikte – das eine mit der Stocherstange des Gondoliere, das andere in klassischer Manier mit dem von Kapitän Dapertutto gereichten Messer. Hier, wie im Verlauf der ersten drei Akte, war keine nennenswerte Handschrift für die theatralische Erzählstruktur erkennbar – die Story wurde, ohne historisches Bewusstsein oder modernen Stil, halt irgendwie bebildert. Viele Details der Curry-Ausstattung und der Friedkin-Inszenierung erinnern an die „Hoffmann“-Produktion, die Roman Polanski noch tief im vorigen Jahrhundert für die Pariser Operá anfertigte.
Zum Epilog, dem kurzen 5. Akt, versammeln sich neben den Choristen auch die vier Frauen des veroperten Schriftstellerlebens auf der leeren Bühne (es müsste eigentlich eine in mehrerlei Gestalt sein). Sie alle sekundieren Hoffmanns Entscheidung zugunsten der Sublimierung. Das so angenehm sparsam wirkende Bild eröffnet der Musik endlich den großen Raum, der zuvor durch manche optische Fantasy-Requisite eingeengt und eingetrübt wurde. Und wenn dann Meyerbeers Theaterorgel in den Schlusschor einfällt, dann stellen allein musikalische Mittel jene Ergriffenheit her, die das promigeile Wiener Publikum ein denkwürdige Sekunde lang vom reichlich spendierten Schlussapplaus abhielt.
Die Musik erblüht unter den Händen des höchst funktional arbeitenden Riccardo Frizza. Ohne die für Offenbach charakteristischen kleingliedrigen und knapp gehaltenen musikalischen Klangfiguren en detail zu vernachlässigen, hebt er mit seiner vorwaltend zügigen Interpretation Zug und Wille zum großen Format dieses Werks hervor. Er stützt sich dabei auf die insgesamt tadellose Anschmiegsamkeit, auf hellwache Präsenz und immer wieder von kleinen Vulkanausbrüchen strukturierte Solidität der klein besetzten Wiener Symphoniker. Der Hörnersatz vollbringt Bravourleistungen und hebt z.B. die musikalische Groteske einer Nummer wie der vom Zwerg Klein Zack in Eisenack kess hervor (der läppischen Marionette, die jene pointierte musikalische Miniatur in Blindenschrift übersetzt, sollte Hausverbot erteilt werden). So ergibt sich in Summe ein tonkünstlerisch hochstehender Abend, in dem gerade auch Juanita Lascarro als sterbende Engelsstimme Antonias und Angel Blue als kaffeebraune Kurtisane brillieren. Lediglich die Höhenprobleme des angenehm intellektuell wirkenden Kurt Streit in der Titelpartie und die von Argiris als diabolischer Machtmensch trüben das Gesamtresultat. Bilderwelt und Bewegungschoreographie aber fallen weit ab gegenüber dem Standard, der sich in Mitteleuropa an den Inszenierungen von Herbert Wernicke (Frankfurt 1985), Robert Carsen (Paris u.a.) oder zuletzt Dietrich Hilsdorf (Essen 2011) misst.
Kurz nach der Uraufführung 1881 kamen „Les contes d’Hoffmann“ auch in Wien heraus, wo – es war eine der größten Theaterkatastrophen – während der zweiten Vorstellung nach der Explosion einer Gasleitung im Ringtheater 384 Menschen verbrannten. Auch jetzt scheint Hoffmann an der Donau kein Glück beschieden. Zwar ist nichts angebrannt. Aber dass das Werk so angeranzt erscheint, bleibt – obzwar keine Katastrophe – dennoch bedauerlich.