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Im Gegenlicht in einer Industriehalle: In der Mitte der schwarzen Halle das Ensemble, an den Rändern (ohne Abgrenzung) das Publikum

Das Publikum auf Tuchfühlung: Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ in der Regie von Dmitri Tcherniakov. © Volker Beushausen, Ruhrtriennale 2023.

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Hofgang für Alle: Bochumer Publikum inmitten von Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“

Vorspann / Teaser

Die Akustik stimmt. Nach über zwanzig Jahren haben sie den Bogen raus, längst ist die Jahrhunderthalle in Bochum ein Ort der Kultur. Auch für große Oper. Seit der weltläufig umtriebige Theatermann Gerard Mortier die RuhrTriennale ins Leben gerufen und einen Anschub verpasst hat, der nunmehr schon über zwei Jahrzehnte dafür sorgt, dass das Ruhrgebiet einen festen Platz im Festspielkalender zwischen Bayreuth, Salzburg und dem Beginn der neuen Spielzeit hat, ist die Jahrhunderthalle so etwas wie das künstlerische Zentrum der Ruhrtriennale. Mit diesjährigen Spielstätten in Essen, Dortmund und Duisburg begann der innovative Welttheater-Belgier Gerard Mortier die Vergangenheit der untergegangenen Industriekultur einer ganzen Region für die Zukunft zu neuem Leben zu erwecken. Er installierte ein Festival des Besonderen, bei dem alle drei Jahre die Intendanz wechselt, also ein künstlerischer Neustart in die Struktur eingeschrieben ist.

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Auf Mortier folgten Jürgen Flimm, Willy Decker, Heiner Goebbels, Johan Simons, Stefanie Carp und schließlich Barbara Frey, die den Staffelstab im kommenden Jahr an Ivo van Hofe weiterreichen wird.

Im Programm der letzten Jahresscheibe von Frey ist die Einladung an Dmitri Tcherniakov, Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ zu inszenieren, ein Höhepunkt. Sie selbst hatte zum Auftakt einen „Sommernachtstraum“ inszeniert, der vor allem für das Burgtheater in Wien kompatibel ist. Tcherniakov hat seine Inszenierung speziell für Bochum inszeniert.

Das Werk, das erst nach dem Tod des Komponisten 1930 uraufgeführt wurde, ist keine Oper im klassischen Sinne. So wie Janáček sich das Libretto aus Fjodor Dostojewskis Roman „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ (1862) destilliert hat, ist es vor allem erinnertes Leben in einem sibirischen Straflager, das für fast alle seiner Insassen wohl ihre Lebens-Endstation bleiben wird.

Der viel gefragte russische Regisseur, der sich unter anderem in Berlin an einem ambitionierten Ring-Projekt versucht (man könnte auch sagen partiell überhoben) hat und sich stets selbst seine Bühnen dazu erfindet, nimmt die gewaltigen Ausmaße der Jahrhunderthalle als Herausforderung und als Steilvorlage. Er nutzt die pure Größe dieses flexiblen Theaterraums voll aus und macht daraus ein Gefängnis. Oder besser eine Anmutung davon. Drei nebeneinanderliegende Gefängnishöfe werden von drei umlaufenden Galerieebenen umgeben. Die Zuschauer sind hier für den Hofgang und die Draufsicht von oben verteilt. Den Aufdruck „Gefängnishof“ auf einem Teil der Eintrittskarten für die hier nur zu habenden Stehplätze gibt es auch nicht alle Tage. So werden die Zuschauer selbst zu einem Teil des Geschehens. Sie sehen den Protagonisten in die Augen, hören sie atmen, müssen ausweichen, wenn sie nicht umgerannt werden wollen.

Am Ende werden alle – ganz gleich von wo – den Erzählungen der Gefangenen aus ihrem Leben und von ihren Verbrechen, ihren kollektiven Gewaltausbrüchen und dem in ein groteskes Schlamm-Catchen eskalierenden Theaterspiel gefolgt, und einem Lastwagen ausgewichen sein, um am Ende eine Szene an einer langen Tafel mit zu verfolgen, die in ihrem Pessimismus besonders berührt. Da wird dem sich selbst als politischen Gefangenen aus besseren Kreise bezeichnenden Alexandr Petrovič Gorjančikov (souverän im Kampf um seine Würde: Johan Reuter) vom fiesen Platzkommandanten (Peter Lobert mit zynischer Herablassung) seine Freilassung verkündet, die alle zunächst euphorisch bejubeln. Diese übersteigert unwirkliche Fröhlichkeit wird aber durch einen abrupten Lichtwechsel und einen Rückfall in Dunkelheit und Erstarrung als pure Illusion ad absurdum geführt. Hier ist der Regisseur dichter an der Vorlage seines Landsmanns – und wohl auch an der gegenwärtigen Realität in seinem „Mutterland“.

 

Tcherniakov hat die Variante einer sogenannten Raumbühne in die Jahrhunderthalle gebaut, wie sie auch andernorts schon mit Inbrunst und wachsender Meisterschaft zelebriert wird. Wer die vierte Wand zwischen Bühne und Zuschauer auf diese Weise aufhebt, will Authentizität imaginieren, emotionale Kraftströme direkt fließen lassen.

Die Bochumer Symphoniker unter Leitung von Dennis Russell Davis sind zentral an einer Längsseite der Jahrhunderthalle im Hintergrund platziert. Sie liefern einen raumfüllenden Janáček-Sound, müssen aber in dieser Konstellation um die Hauptrolle, die dem Orchester gerade in diesem letzen Werk des großen Mähren zukommt, immer wieder ringen. Gleichwohl kommt die atmosphärische Musik, die oft wie ein ganz eigener Brückenschlag zwischen Romantik und Moderne wirkt, zu ihrem Recht. Deren wiederholendes Kreisen, das die Unentrinnbarkeit exemplarischer Lagerschicksale verdeutlicht, wirkt manchmal wie eine Vorwegnahme von Minimal Music.

Neben dem handverlesenen Protagonistenensemble sichert der Chor des Nationaltheaters Brno per se idiomatisches Tschechisch. Es beginnt mit einem ausgelassenen Sturm der Gefangenen in den Hof, bei der sich angestauter Bewegungsdrang der eingesperrten Männer zwischen Alberei und Gewalt entlädt. Es folgt das episodische Wechselspiel zwischen den Einzelnen und der Masse, bei denen die Protagonisten mit darstellerischer Intensität für die Profilierung ihrer jeweiligen Rollen sorgen: John Daszak, der als Skuratov den überdrehtem Spaßvogel mimt – oder Stephan Rügamer als souverän wirkender Luka, der sich am Ende als jener Filka herausstellt, dem ein Anderer (Leigh Milrose als Siskov) letztlich seinen Aufenthalt im Lager verdankt und der sich blutig rächt. Dem Alten (Neil Shicoff!) bleibt der Hinweis darauf vorbehalten, dass auch der eine Mutter hatte ...

Man hat in Bochum die Möglichkeit ein eindrucksvolles Experiment durchzustehen, das die Besonderheiten der Jahrhunderthalle nutzt, um mit räumlicher Nähe Wirkung zu erzielen. Was man aber aus der Nähe tatsächlich sieht, ist vor allem die Kunstanstrengung genau das zu tun. Der Rest sind Dostojewski, Janáček und eine Regie, die klugerweise auf plakative Statements und beliebige Aktualisierungen verzichtet. Der Blick auf Menschen „wie du und ich“ und ihre potenziellen Gefährdungen, als den man diese Inszenierung sehen kann, ist für sich schon ein reichlich starkes Stück.

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