Das Leben des Renaissance-Komponisten Gesualdo, der aufgrund seiner ungewöhnlichen Harmonik auch „Wagner des 17. Jahrhunderts“ genannt wird, bietet Stoff für eine Reihe von Dramen und Opern. Als Alfred Schnittke an seiner Oper „Gesualdo“ komponierte, plante Salvatore Sciarrino denselben Stoff, modifizierte ihn aber, nachdem ihm der Kollege mit der Veröffentlichung zuvorgekommen war: statt des geplanten Zitats der Musik von Gesualdo, die Sciarrino auch anderweitig musikalisch bearbeitet hat, griff er auf den französischen Komponisten Claude le Jeune zurück.
Dessen Elegie stellte er a cappella pur an den Anfang seiner Oper. In einem ersten Zwischenspiel harmonisiert er diese Elegie zum höfischen Tanz und zerlegt sie in weiteren Zwischenspielen in ihre Einzelteile, sukzessive fast bis zur Unkenntlichkeit. Auch die Namen des seinem Libretto zugrunde liegenden Dramas von Giacinto Andrea Cicognini über den brutalen Doppelmord des Fürsten von Venosa, Carlo Gesualdo, an seiner Frau und ihrem Liebhaber im Jahre 1590, veränderte Sciarrino, ließ aber die Handlung unverändert. Nachdem diese Oper als „Renaissance der Musiktragödie“ (Sciarrino) 1998 bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführt worden war, folgten 31 weitere Produktionen. Die 32ste ist die bereits fünfte Inszenierung einer Oper von Sciarrino an der Berliner Staatsoper. Wie „Macbeth“ an der Baustelle der Staatsoper unter den Linden, so inszenierte Hausherr Jürgen Flimm diese Mörder-Oper selbst.
Vor dem Heimspiel im Schiller-Theater hatte er sie bereits als späte italienische Erstaufführung in Bologna herausgebracht. In „Luci mie traditrici“– auf Deutsch etwa „Meine verräterischen Augen“ – verschachteln sich in acht Szenen der pausenlosen zwei Akte Duette und ein Terzett, mit breit gefächerter vokaler Disposition, schnellen Melismen-Ketten am Ende der jeweiligen Gesangsphrase, überlagert von länger gehaltenen Tönen des Dialog-Partners. Die dialogintensiven Einsätze bedingen mehr ein Gegen- als ein Miteinander-Singen der Protagonisten, welches der Dirigent David Robert Coleman mit 21 Instrumentalisten der Staatskapelle ausdifferenziert. Das kammermusikalisch solistische Aufgebot integriert Bassklarinette und Saxophon, aber es erhält seine Besonderheit durch den vielfältigen, ungewöhnlichen Einsatz der Instrumente – Klappengeräusche, Überblasen oder tonloses Blasen, bis an die Grenze der Hörbarkeit. Colemann, bekanntlich selbst Komponist, exerziert diese in Musik gesetzten seelischen Regungen zwischen Naturatmosphäre und innerer Handlung der Protagonisten trefflich, ihren Herzschlag, ihr Flüstern und Wispern, Zirpen und Donnergrollen, nervöse Spannung und illustrative Sinnlichkeit.
Die solistische Partie der Voce für den Prolog, die bei geschlossenem Vorhang Claude le Jeunes Komposition vorzutragen hat, wird in Berlin unisono vom Kinderchor der Staatsoper ausgeführt. Hinter blauem Gazeschleier, auf den der Text der französischen Komposition projiziert wird und auf den die Dekoration sich dahinter abzeichnenden Salons (Bühne: Annette Murschetz) durchschlägt.
Die hohen Tremoli der Streicher und einzelne laute Schläge, das Flirren hat etwas von Krimi-Musik. Und wie einen Krimi hat es Jürgen Flimm inszeniert, allerdings gewürzt mit rheinischem Humor. So entstand eine skurrile Mischung von Bergmanns „Szenen einer Ehe“ und „Dinner for one“.
Denn den im Original unsichtbaren Beobachter und Verräter des Verhältnisses der Fürstin mit einem Fremden personifizierte der Regisseur als einen der Commedia dell arte entstammenden tollpatschig-verschlagenen Harlekin, einen Diener, der – wie der Kammerdiener in „Lulu“ – selbst in die schöne Herrin verliebt ist. Bariton Christian Oldenburg liefert clowneske Nummern, vom Tischdecken und Staubwischen bis zum Blutabnahme bei seinem Gebieter. Die der attischen Tragödie folgende Zeitstruktur der Handlung, den Ablauf eines Tages vom Morgen bis in die Nacht, verdeutlicht der Diener, indem er die Uhr eines als Kunstobjekt im Salon stehenden Turmmöbels in Etappen weiterdreht.
Der Komponist hat die Partie des Liebhabers wahlweise für Counter oder Mezzo geschrieben. Flimm wählte die Version für Mezzosopran und verlieh der Handlung auf diese Weise eine homoerotische Note. Lena Haselmann gibt den L’ospite in verschiedenen Kostümierungen (von Birgit Wentsch), mal im Gesellschaftsanzug mit Reitgerte, mal mit Falthut, falschem Schnurrbart und Degen. In der Türöffnung stehend, wird ihr nackter Oberkörper vom betrogenen Ehemann in drei aufeinander folgenden Vorgängen blutig malträtiert. Aber nicht genug damit: die zuvor schon einen Riss aufweisende Raumwand stürzt ein und gibt das dahinterliegende Schlafzimmer Preis, in dem die/der schwer verletzte L’ospite vergeblich versucht, sich selbst zu erschießen.
Der Diener, dem der Graf angekündigt hatte, er werde als Erster sterben, segelt mit einem Tablett quer durch den Raum und stürzt, ein Messer im Rücken, über und mit einem Sessel zu Boden. Zuletzt genießt Graf Malaspina den Mord an seiner untreuen Gattin. Am Ende steht er, mit erhobenem Revolver, allein im leeren Raum – sein möglicher Suizid bleibt offen.
Die onomatopoetische Namensgebung der Figuren des gräflichen Paars, Malaspina (Dorn) hatte im Regisseur offenbar die Idee evoziert, von Hand zu Hand wandernde Rosen als Hauptrequisit zu verwenden. La Malaspina ritzt sich an einem Dorn den Finger, angesichts des Bluts kollabiert ihr Ehemann, sie aber genießt ihr Frühstücksei. Katharina Kammerloher gibt die gleichermaßen galante, leidenschaftliche, kalt berechnende und dann angsterfüllte Gräfin; im Gedächtnis haften bleibt die Diskrepanz zwischen Text und Subtext, insbesondere bei ihrer Beteuerung ewiger Liebe, „sempre, sempre!“
Sciarrino-Spezialist Otto Katzameier verkörpert die Rolle des Fürsten gefährlich und skurril, zunächst fallsüchtig, dann hinterhältig und brutal, als ein Racheengel mit schwarzen Flügeln, stimmlich mit allen erforderlichen Facetten und Ausdrucksformen.
Die Premierenbesucher im (wohl aufgrund des EM-Endspiels) nicht voll besetzten Schiller-Theater geizten nach 70 Minuten Spannung nicht mit Applaus und Bravorufen. Eine Aufführung, die bewirkt, dass auch jüngere Besucher die Schwelle zur neuen Musik beherzt überwinden und dann infiziert werden vom Kosmos Oper – schließlich ist der Name des Festivals „Infektion!“
- Weitere Aufführungen: 12., 13., 15. und 16. Juli 2016