Stücke wie der „Figaro“ gelten nach fünf Jahrzehnten „Regietheater“ als ausgereizt: Die Möglichkeiten der Politisierung, Sexualisierung, Dekonstruktion, Ironisierung oder Veralberung sind im Wesentlichen durchgespielt. Felix Breisach, ein Routinier auf dem Feld der Fernsehdokumentationen und der TV-Portraits prominenter Musiker (wie Boulez, Harnoncourt oder Hampson), hat im Theater an der Wien bereits die halbszenische Einstudierung der von Nikolaus Harnoncourt zelebrierten Da Ponte/Mozart Trilogie betreut.
Nun stand er vor der nicht sonderlich dankbaren Aufgabe, mit der auf „La folle Journée“ von Baumarchais fußenden „Hochzeit des Figaro“ der besonders ausgeprägten Schaulust, Schadenfreude, Nasch- und Klatschsucht des Wiener Publikums einen besonderen Appetithappen vorzusetzen. Die Polarisierung ist ihm gelungen – er konnte sich bei ihr auf einen mit mehr als 120 Opernaufzeichnungen fürs Fernsehen gewonnenen Blick für gängige Bühnenbräuche stützen. Opernerfahrung sammelte er auch als Regisseur von Peter von Winters „Stein der Weisen“ bei den Sommerfestspielen in Salzburg (2010). Über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurde Breisach mit einer „Entführung aus dem Serail aus dem Hangar“. Im Orchestergraben des Theaters an der Wien gastieren nun Marc Minkowskis Musiciens du Louvre Grenoble und stellen neuerlich ihre individuell entwickelte Klangkultur unter Beweis – gediegenste elegische Momente, Spannungsbögen der Sehnsucht und elektrisierendes Brio.
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Pierre Augustin Caron de Beaumarchais (1732–1799) war ein Mann, der das Leben aus verschiedenen Perspektiven und in unterschiedlichen Härtegraden kennenlernte. Er diente als Uhrmacher und Harfenist, Musiklehrer der vier unverheirateten Töchter des Königs Louis XVI und weitergehend als Hofbeamter. Er war Kaufmann und Häftling, Waffenhändler im größten Stil und Top-Agent. Im kulturellen Leben von Paris reüssierte er als Autor von parades, heiteren und derben Sketchen insbesondere über vor- und außereheliche Liebe – geschrieben für das Privattheater von Lenormant d'Étioles, den pro-forma-Gatten der allerhöchsten Mätresse Mme. de Pompadour. Als Gattung sei die Komödie weniger wagemutig als die Tragödie, kommentierte Beaumarchais listig in der Vorrede zum „Tollen Tag“, dem mittleren Stück seiner Figaro-Trilogie: „Sie geht nicht über die Missverhältnisse hinaus, weil ihre Bilder sich von unseren Sitten und ihre Gegenstände sich von der Gesellschaft herleiten“.
Nach dieser Anleitung verfährt nun Felix Breisach im Theater an der Wien. Die Bilder, deren Architektur und Rahmen Jens Kilian entwarf, leiten sich von therapeutischen Einrichtungen des vorigen Jahrhunderts her. Die Krankengitterbetten älterer Bauart sind auf der Opernbühne zwar so wenig neu oder originell wie die in einem drehbaren gläsernen Zimmer in der Mitte der unteren Bühnenetage untergebrachte Couch-Ecke. Ihr Vorbild findet sich bis heute in der Wiener Berggasse Nr. 19. Die Art und Weise, wie Dr. Sigmund Almaviva als anmaßender Analytiker und ubiquitärer Spielleiter agiert, hat freilich Pfiff und verweist auf einige der von Beaumarchais angepeilten „Missverhältnisse“ – nur eben nicht in den Verkehrsformen des späten 18., sondern im Ärztekittel und den „maximal transparenten“ Therapie-Usancen des frühen 21. Jahrhunderts. Die Mitmenschen um diesen Grafen Freud herum haben ersichtlich wenig Freude an dessen herrischen und demütigenden Treiben, sie stehen neben sich und geraten außer sich. Dabei erscheint nicht nur jede Handbewegung und das Minenspiel der Akteure minutiös gearbeitet, sondern geraten viele Episoden dekuvrierend und witzig. Zu Beginn steht als Therapie-Programm auf der Anzeigetafel noch „Parsifal“ (also die Story vom religiös geläuterten reinen Toren) – der Womanizer mit dem hohen Sozialstatus wischt aus und kreidet „Figaro“ an. Er dekonzentriert, durch die gläserne Wand schauend, Susannas Gespräch mit dem Verlobten über die künftige Wohnungseinrichtung mit der Puppe, die er ihr weggenommen hat. Die Brautgeschenke für Susanna werden geschmackvollerweise von den Choristinnen mit einer frisch bezogenen Matratze eingesammelt. Perücken werden nur während der Gerichtsverhandlung des Grafen aufgesetzt. Plädiert wird, als wären es die einschlägigen Vorrichtungen der Gerichtssäle, von Bettgestellen aus, die bei der Kissenschlacht am Ende des 2. Akts umstürzten.
Die Inszenierung spielt mit scheinbar unmotiviert eintretenden Verlegungen, Verrückungen und Verdrängung von Handlungssträngen. Damit zielt sie über die unterhaltsamen Verweise auf die surrealen Momente von Da Pontes Libretto hinaus auf Dekonstruktion der fortdauernden so geliebten, aber von Anfang an problematischen Mozart-Aura. Dem alten Plot unterstellt sie, ganz im Sinn der Erfinder des „Figaro“, heutige Sitten und Gebräuche. In einer Welt voll Illusionen über die „wahre Liebe“ fehlen so einfache theatrale Mittel wie Seifenblasen so wenig wie eine an der commedia del arte geschulte Buffo-Einlage von Peter Kálmán als Advokat Bartolo, der sich dann weiters in der dreifach aufgeladenen erotisch-sexuellen Intrige auf die Lektüre des Fachmagazins „Hundewelt“ konzentriert (da weiß man noch, was unverbrüchliche Treue ist!).
Überhaupt verfügt die Produktion über eine telegene exquisite internationale Sänger-Crew. Stéphane Degout beglaubigt die in distinguierten Bahnen kanalisierte Dauergeilheit und obsessive Versessenheit des keineswegs wirkungslosen Therapeuten Almaviva. Alex Esposito, seinem Arbeitgeber nicht ganz unähnlich, profiliert sich mit hübsch ausgespielter Verschlagenheit als Gegenpol. Anett Fritsch bringt mit Stimme und Mimik die zwischen beleidigter Ehefräulichkeit und noch immer frischer Lebenslust changierende Contessa Rosina zur Geltung. Die als Siebzehnjährige aufbereitete Emöke Baráth stimmt mit traumhaftem Piano die Glückshoffnungen Susannas an, verrät aber auch stimmliche Nuancen eines nicht ganz ungestreiften Brautdaseins.
Ob die Momente der Aufhebung von scheinbarer Handlungslogik durch Felix Breisachs Zugriff auf das Stück noch als dem Werk gemäß gelten sollen oder nicht, sei dahingestellt. Auch im besonders absurden und auf eine glaubhaft realistische Weise partout nicht zu inszenierenden IV. Akt bleibt der Regisseur seinem Figaro-Geschäftsmodell in einem Geviert zusammengeschobener Bettgestelle treu. Wiederum hielt er sich strikt an die Vorgabe von Baumarchais und das Libretto: „Alles kommt ans Licht“. Dieser beschrieb das von ihm dichterisch in Bewegung gesetzte Kräftespiel zwischen einem recht mächtigen Mann der Epoche, den man nicht beleidige, „wenn man ihm sein Zuviel an Galanterie vorwirft“ und „den Mitteln, die der herausgeforderte Unterlegene diesem Angriff entgegensetzen kann“.
Aus dem Intrigenspiel des Eroberungswillens und der zu einer brüchigen Koalition sich zusammenfindenden Abwehrkräfte geht „ein verärgerter, ermatteter, abgehetzter Mann“ hervor, „der sich in seinen Hoffnungen betrogen sieht“ und zum dritten Mal an diesem tollen Tag seine Frau um Vergebung bitten muss (die so „gütig, nachgiebig und feinfühlend ist und ihm schließlich vergibt; denn das tun sie immer“). Breisach zeigt in einer Therapiesitzung das verärgerte, ermattete, abgehetzte Alpha-Männchen. Er und die Musiciens du Louvre mit ihrem exzellenten Studienleiter und virtuosen Hammerklavierspieler Luca Oberti machen das historisch fixierte Musikkomödientheater wieder zu einer erotischen Anstalt, die im günstigen Fall ja ein Ort der Erkenntnis ist.