Unter dem Titel „Die 1910er: Hälse mit Kreuzen“ feierte das Zafraan Ensemble den Auftakt zur Zehnjahresjubiläums-Reihe „UA Berlin“, die durch das 20. Jahrhundert schreitet und vergangene Berliner Uraufführungen mit neu in Auftrag gegebenen verbindet. Mit Sopranistin Eva Resch als Gast standen auf dem Programm neben Schönbergs „Pierrot lunaire“, der einst 1912 im Berliner Choralionsaal uraufgeführt wurde, Werke von Hanns Eisler, Enno Poppe sowie eine Uraufführung von Florian Wessel.
Eine Mischung aus Ruhe und Bescheidenheit ist es, die Miguel Pérez Iñesta ausstrahlt – behutsame Kontrolle statt despotischer Herrschaft. Er verschmilzt als Dirigent regelrecht mit dem ohnehin homogenen Ensemble, spielt sich in den Hintergrund und lässt dem klingenden Formenspiel den Vorrang. In der Pausenmoderation erklärt Iñesta, dass die Konsonantenschrift des Namens „Zafraan“ im Arabischen und Hebräischen unterschiedliche Wortbedeutungen nahelege: „Das Missverständnis hat mir am meisten gefallen.“ Daraus das banale Narrativ der Musik als Weltsprache, die derartige Unklarheiten einfach überwinde, abzuleiten, wäre verkürzt. Gerade in Verbindung mit dem Anspruch, Neue Musik zu spielen. Einen Zugang muss man sich immer erst erarbeiten, ganz so wie ein umfangreiches Verstehen und Verständlichmachen immer auch Aufwand, Geduld und Ausdauer abverlangen.
Während in neueren Konzepten immer wieder außermusikalische Inhalte die Musik überfrachten, parolenhafte Plakativität einen ach so politischen Kontext suggeriert und dabei manchmal gar die Naivität zugrundeliegender Gedanken entlarvt, verschreibt sich hiesige Darstellungsweise zweifellos eines subtileren ästhetischen Ausdrucks. Assoziationsmöglichkeiten bleiben bestehen, wenn Pierrot „nach Bergamo, zur Heimat“ zurückkehrt und sich vor dem geistigen Auge die Bilder der Militärkolonnen befüllt mit Virusopfern aus vergangenem Frühjahr auftun – aber dieses Sinnieren bleibt allen persönlich überlassen. Das Ensemble selbst verschreibt sich den inhärent musikalischen Möglichkeiten, den ergiebigen Eigenheiten der Strukturen vorgetragener Werke. So werden unter den exzentrischen Klangschichten von Enno Poppes „Gelöschten Liedern“ aus den späten 1990ern geradezu streng akribisch ausgearbeitete Formprinzpien offengelegt. Die Musizierenden scheuen nicht das Kantige, teils Schrille in den komprimierten Klangimplosionen, akzentuieren es aber auch nicht über, lassen die ausklingende Weise des Mittelteils strömen, um anschließend wieder aufzubauen, schließlich das regelrechte Übertrumpfen zu zelebrieren, bis zuletzt das Ganze in einem Spiel weitgefächerter Lagenkontraste ausplätschert.
Schicksalhafte Vorahnung
So gut gewählt wie naheliegend steht „Palmström“ von Hanns Eisler mit auf dem Programm. Der direkte Bezug zum „Pierrot” wird nicht nur durch die nahezu identische Besetzung inklusive deklamierender Sopranstimme offenkundig, auch die Stilgestaltung orientiert sich unverkennbar am damaligen Lehrer Schönberg. Und widerstrebt ihm doch fundamental. Als Parodie – durchaus über den musikalischen Terminus hinaus – bezeichneten den „Palmström“ Zeitgenossen, zuvorderst Stuckenschmidt. Der Musikkritiker sah darin gar das Schlüsselwerk, nach dem Eisler vom „Gesellen“ selbst zum „Meister“ aufstieg. Tatsächlich knistert das Spannungsfeld zwischen nacheiferndem Gestus und persiflierender Spitze, ebenso wie sich Kunstfertigkeit und Studiencharakter eigentümlich vermengen. Ein materialistischer Kern liegt der Rebellion zugrunde: Nach der Zwölftontechnik geschrieben, mischt sich eine (neu)sachliche Nuance unter, die gegenüber dem aus dem Vorbild herrührenden Symbolismus quersteht. Das Zafraan Ensemble weiß diese bewusste Distanzierung durch Formgefühl auszuspielen und auch Sopranistin Eva Resch schlägt eine verhaltene Stimmgebung an, die ihre Expressivität aus der Artikulation schöpft. Es mögen die dimmenden Wandvorhänge sein, die ihrer Feinarbeit vereinzelt etwas zu viel Klang rauben.
An den von Schönberg unvertont gebliebenen Strophen hat sich Florian Wessel in seiner Neukomposition orientiert. Offenkundig primär an einer, die auch den Namen stellt: „absinthe“ – Verse, in denen der Protagonist in einem Ozean der träumerisch trunkenmachenden Flüssigkeit schiffbrüchig wird. In ständigem Anfluten bäumt sich das Instrumentalstück auf und verebbt. Hypnotischer Taumel gleich einem karikaturesk hämischen Jo-Jo, unheilvolles Wogen. Nervengezitter blitzt dazwischen auf: allmählich Schaben und Schrubben. Kontinuierlich verloren schlägt regelmäßig ein tiefster Klavierton ein, weniger rettendes Signalhorn als vielmehr düster schicksalhafte Vorahnung, die sich unaufgelöst bedrohlich im Diffusen verliert. Vom Vorgeschmack des sagenumwobenen Kräuterbrand schließlich zum „Wein, den man mit Augen trinkt“.
Wahrnehmung und Wahn
Voll entfaltet sich Eva Reschs Interpretationsvermögen in der abschließenden Darbietung des „Pierrot lunaire“. Vom heimlichsten Flüsterton – mit stetig präsenter Sprache – bis zum klimaktischen Ausbruch – mit voller Stimme und romantischem Vibrato – präsentiert die Sopranistin die volle Palette dessen, was aus diesen Notenhälsen mit Kreuzen und Köpfen herauszuholen ist. Kühn lässt sie einzelne Töne zerfasern, andere triumphal Aufblühen, geht bis ins Jammern und Schluchzen und macht dabei ganz eigene Nuancen des Grotesken erfahrbar: „Mein Lachen hab ich verlernt“. Ein Mimen der Gefühlswelten, weil der natürliche Ausdruck jener verloren gegangen ist, vielleicht nie wirklich existiert hat. Eine Infragestellung der Menschlichkeit wie diese Musik selbst eine der Tonalität ist. Ein Beschreiten des schmalen Grats zwischen Wahrnehmung und Wahn, zwischen Gelächter des Hohns und des Mitleids. Ein schockierender Witz. „O alter Duft aus Märchenzeit“, als man noch eng an eng in vollen Sälen saß.
Nein, es bedarf nicht immer Aktualisierung, Erklärung und Entkontextualisierung, wenn sich so viel darin noch immer hören, lesen und empfinden lässt. Allein durch Musik erzählen Eva Resch und das Zafraan Ensemble jene sinnberauschenden Märchen.