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Im Dschungel der Texte

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Die Münchener Biennale für Musiktheater 2010
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Carusos Stimme als tönende Gallionsfigur eines Dampfers, der einen Amazonas-Zufluss hinauffährt: In diesem Bild und später natürlich in der physischen Präsenz des ächzend einen Urwaldberg hochgezogenen Schiffes steckt nicht nur eine Metapher für das, was „Fitzcarraldo“-Regisseur Werner Herzog als die „Eroberung des Nutzlosen“ bezeichnet hat. Hier bricht sich außerdem eine Opernhaftigkeit Bahn, die jener der wunderbar überzeichneten Eröffnungsszene im Teatro Amazonas von Manaus an Verstiegenheit der Theatralik in nichts nachsteht. (Dem damals noch gänzlich opernfernen Herzog sprang für die Inszenierung dieses Ausschnitts aus Verdis „Ernani“ der kürzlich verstorbene Werner Schroeter zur Seite und ließ die Elvira prompt als Transvestiten auftreten.) So schief der Vergleich – bezogen auf die Gattung und den inhaltlichen Zugriff – auch sein mag:

Diese nicht bloß bildgewaltigen, sondern auch im Sinne einer musikalischen Rhythmisierung denkwürdigen Filmmomente musste man sich schnell aus dem Kopf schlagen, wollte man angesichts des schütteren künstlerischen Ertrags des bislang wohl hochtrabendsten Projekts in der 20-jährigen Geschichte der Münchner Biennale für neues Musiktheater nicht den Glauben an den Sinn der Festivalunternehmung insgesamt verlieren.

Nüchtern betrachtet war nicht mehr passiert, als dass ein mit großem logistischen und wohl auch finanziellen Aufwand, vor allem aber mit einer Riesenportion Gutwilligkeit ausgestattetes Projekt an die üppig gepolsterte Wand gefahren wurde. Was angesichts der Aufgabenstellung kaum verwunderte: Denn wo beginnen, wenn gleichzeitig ein Naturparadies und seine Bevölkerung vor dem Untergang, das Weltklima vor dem Kollaps und die Gattung Oper vor dem Versinken in der vollständigen gesellschaftlichen Irrelevanz gerettet werden sollen?

Anstatt dass sie dieses Dilemma nun aber zum Thema ihrer Arbeiten gemacht hätten, traten die Komponisten der drei Amazonas-Projektteile die Flucht nach vorne an. Der Münchner Klaus Schedl hatte mit seinem Rückgriff auf Texte des gescheiterten El-Dorado-Entdeckers Sir Walter Raleigh noch den dankbarsten Part. Dessen zum Teil fiktiven Reiseberichte aus dem Land güldener Verheißung ließ Schedl sich von Roland Quitt zu einem Steinbruch aus Wörtern aufschichten, den er sodann mittels verzerrter E-Gitarren-Sounds und körperlich präsenter Tieffrequentklänge in Stücke meißelte. Das Ensemble piano possibile unter Heinz Friedl stellte dafür das widerstandsfähige Instrumentarium zur Verfügung.

Mafalda de Lemos, Moritz Eggert und Christian Kesten verkörperten mittels riesiger Videoprojektionen diese von Schedl als koloniale Vergewaltigung inszenierte Textcollage namens „TILT“ und rückten sie gleichzeitig in theatrale Distanz: Dort nämlich, wo sich die Projektionen mit den live hinter den transparenten Leinwänden sichtbaren Aktionen der singenden, sprechenden oder schreienden Performer überlappten, entpuppten sie sich – eine Spur zeitversetzt – als Täuschungen. Mehr Installation als Musiktheater, vermittelte dieser dem Thema in seiner Gewalttätigkeit wenigstens einigermaßen angemessene erste Teil phasenweise eine Ahnung von musikdramatischer Relevanz.

Nach einer denkbar dürftigen, pseudopolyphon angereicherten Textrezitation – Thema war hier die Wahrnehmung der weißen Eindringlinge durch die Ureinwohner – hatten Texter Roland Quitt und Regisseur Michael Scheidl im zweiten Teil („A Queda do Céu“ – Der Einsturz des Himmels) offenbar erlebnispädagogische Ambitionen: Herabgelassene Textilflächen, dunkel schillernd beleuchtet, wollten Urwaldoptik suggerieren, der Brasilianer Tato Taborda lieferte dazu eine Geräuschkulisse aus synthetischen Naturlauten und den Beschädigungen, die Zivilisationsklänge (Marschgebläse, Kirchenmusik) dort anrichten.

Das Publikum – aufgefordert, sich in der Münchner Reithalle frei zu bewegen – begegnete einem „Domine Deus“ stammelnden Missionar und weiteren Fremden, gegen deren unheilvollen Einfluss Schamanen vergebens ankämpften. Das wenige, was sich an Atmosphäre entwickelte, wurde von uns umherstapfenden Hörtouristen zunichte gemacht. Vielleicht eine Erkenntnis?

Am Schluss dann wenigstens klare Ansagen: „Ohne die Regenwälder gibt es weniger Regen.“ Nach dem Blick in die Vergangenheit und Gegenwart unheilvollen „Kulturaustauschs“ sollte vom Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie (hauptverantwortlich: Peter Weibel) der Blick in die Zukunft erfolgen. Zu sehen war zunächst indes eine auf höchstem technischen Niveau erschreckend kunstgewerbliche Infoshow zum Thema Klimawandel. Unregelmäßig zu einem Treppenfeld aufgetürmte Quader dienten als schmucke Projektionsfläche für Lichtspiele und Regenwald-Fototapeten. Eingeblendet und mit wahrscheinlich hochkomplex zusammengebastelten Surroundsounds Ludger Brümmers untermalt, lieferten Texttafeln dazu eine Nachhilfestunde in Sachen Biochemie.

Die anschließende „Klimakonferenz“ in ihrem unbeholfenen Lavieren zwischen misslungener Persiflage und Betroffenheitspathos näher zu beschreiben, verbietet der Respekt vor den beteiligten Künstlern, die ihre Redezeit an einem riesigen, klangprogrammierten Touchscreen-Tisch abzuarbeiten hatten. „Der Marktnihilismus ist der wahre Terrorismus“, deklamierte dazu ein kleiner Chor. Hoffentlich gingen die begleitenden Vermittlungsbemühungen in Sachen Natur- und Klimaschutz über dieses Niveau hinaus.

Die drei weiteren Uraufführungen standen zwar medial im Schatten des Amazonas-Tryptichons, erfüllten mit ihren durchaus eigensinnigen Zugriffen auf die jeweilige Textvorlage aber wenigstens den Festival-Zweck, jüngeren Komponisten zu einer ersten Auseinandersetzung mit dem Musiktheater zu verhelfen.

Philipp Maintz und sein Librettist Thomas Fiedler hatten aus dem monströsen Wortgebilde, das Isidore Ducasse, der sich Comte de Lautréamont nannte, zu seinen „Chants de Maldoror“ einst auftürmte, sieben Szenen extrahiert, die Vieles von dem, was die Titelfigur Maldoror, ein tiefschwarzer Fürst der Finsternis, an Grausamkeiten imaginiert und begeht, nur andeuten.

So wie Philipp Maintz offensichtlich stärker an der dunkel irisierenden Sprachmacht Lautréamonts als an der Frage nach der Herkunft des Bösen in der Welt interessiert ist, so belassen es auch die Regisseure Georges Delnon und Joachim Rathke bei Andeutungen, setzen ihrerseits die Sprache in Szene: In riesigen Projektionen läuft nahezu permanent der französische Text über einen schmalen, einen kleinen Teil der Bühne nur kurzzeitig verdeckenden Zwischenvorhang, um sich dann in den Stangen einer riesigen Käfigtrommel reflektierend zu vervielfältigen. In diesem mal mehr, mal weniger geöffneten Käfig finden die zentralen Begegnungen Lautréamonts und Maldorors statt, die, gleich gekleidet, als Facetten einer einzigen Persönlichkeit kenntlich sind. Gesungen von zwei Baritonstimmen (mit perfider Noblesse: Martin Berner und Otto Katzameier) kulminiert im dritten Bild die Auseinandersetzung des Dichters mit der dämonischen Figur, die er (in sich) freigesetzt hat.

Dies ist einer der wenigen Momente, in denen Philipp Maintz seine instrumentatorische und dynamische Zurückhaltung aufgibt; in einem gro-ßen Ausbruch kündigt sich die Katastrophe an, die in der folgenden Szene über die Familie hereinbrechen wird. Maintz’ Musik ist über weite Strecken eine Studie in der Selbstbeschränkung. Nie erliegt er der Versuchung, mit dickem Pinsel das gesungene Wort zu übertünchen. Die Klänge des groß besetzten, aber selten im Tutti eingesetzten Orchesters (fabelhaft: das Sinfonieorchester Aachen unter Marcus Bosch), sind präzise ausbalanciert, das Schlagwerk ist vornehmlich als Farbe eingesetzt, einzig der zunächst dumpfe Pulsschlag, der sich von der dritten zur vierten Szene hin ins Kindliche aufhellt, deutet zwischendurch ein durchlaufendes Metrum an. Kein süffiges Eintauchen in die Abgründe also auch hier, eher ein distanzierter Blick auf „ein Anderes“, als der im Festivalmotto evozierte „Blick des Anderen“.

Für diesen Blick sorgte auch die Sopranstimme, die vor allem für die Bilder eins und sieben zentral war. Philipp Maintz hatte diese beiden Szenen aus früheren Werken weiterentwickelt. Marisol Montalvo, für Maintz die Auslöserin dieser Rahmenidee, war der enormen Tessitura zwar mühelos gewachsen, das Volumen ihrer Stimme reichte freilich nicht ganz für eine visionäre, raumfüllende Gestaltung. So blieb auch hier der Eindruck einer exquisit kontrollierten, aber vielleicht doch eine Spur zu gedämpften und letztlich kaum musikdramatisch wirksamen Auseinandersetzung mit den Abgründen menschlicher Fantasie.

Auch Martón Illés befragt seine Vorlage, Rainer Maria Rilkes dramatisches Gedicht „Die weiße Fürstin“, nicht auf theatralisches Potenzial, was wohl auch vergebens wäre. Er folgt ihr vielmehr in ihre Traumverlorenheit und staut den Sprachfluss durch fragmentierte Wiederholungen so lange auf, bis nur noch surreale Rinnsale übrig bleiben. Die wenigen „handelnden“ Personen vervielfacht er in mehrere Sänger und Schauspielerinnen und spreizt ihre Rollen somit in eine polyphone Sprech- und Singmischung auf.
Bis auf eine spätromantisch vom Klavierlied ausgehende Phase, die sich zu beinahe Strauss’scher Ensembleopulenz auswächst, geht Illés dabei gänzlich ironiefrei vor, wohingegen Regisseurin Andrea Moses den Text als symbolistischen Schwulst über weite Strecken dem Slapstick preisgibt. Das exquisite Ensemble, angeführt von der wunderbar ambivalenten Astrid Meyerfeldt in der Sprechrolle der Fürstin, bleibt die kurzweilige Stunde lang, die das Stück dauert, perfekt in der Schwebe zwischen Drolligkeit und Totalabsturz.

Die langen gesprochenen Passagen verbeugen sich dann aber wieder ehrfürchtig vor Rilkes Ergüssen. Das gut 20-köpfige, mit auf der Bühne sitzende Ensemble (kompetente, hellwache Kräfte des Philharmonischen Orchesters Kiel unter der Leitung von Georg Fritzsch) durchpulst – auch von der Satzstruktur her deutlich in eine Streicher- und eine Bläsergruppe aufgeteilt – mit seinen weitgehend kammermusikalischen Mikrostrukturen den Text-raum meist sparsam, aber mit sehr klar ausformulierten Gesten, die sich nur selten einer unmittelbar musikdramatischen Funktion unterordnen.

So laufen die musikalischen Strukturen, deren Autonomie von der semikonzertanten Bühnenkonstellation unterstrichen wird (die Sängerinnen ziehen sich bisweilen hinter Notenpulte zurück), und Andreas Moses’ distanzierender Bühnenzirkus weitgehend nebeneinander her.

Ähnlich unbestimmt war auch die Korrespondenz zwischen Bühnengeschehen und musikalischer Formulierung in Lin Wangs „Die Quelle“. Möglich, dass die englische Übersetzung des auf einer Erzählung Can Xues beruhenden Librettos der poetischen Kraft abträglich ist, die an den Texten der Chinesin gerühmt wird; möglich auch, dass Andreas Bodes minimalis-tische Inszenierung in ihrer vollständigen Missachtung der Spiel- und Projektionsanweisungen der Komponistin dem Werk keinen guten Dienst erwiesen hat. Was hier herauszulesen ist, hätte vielleicht in der Überlagerung von alltäglichen Szenen durch die surreale Selbstfindung der Protagonistin eine gewisse Theatralität entfalten können.

So beobachtete man erstaunt bis amüsiert, wie in den perspektivisch schön zusammengestückelten Bühnenkästen (David Schnell) die Büroangestellte Jian Yi mit rätselhaft personalisierten Facetten ihrer Selbst in einen kommunikativ ins Leere laufenden Dialog tritt. Am Ende darf sie, deren Suche nach den Wurzeln ihrer Persönlichkeit Züge einer künstlerischen Selbstvergewisserung trägt, das Haus ganz übernehmen, in dem sie anfangs als Mieterin nur leidlich geduldet wird. Vielleicht kann die Quelle, die dort im Untergrund sprudelt, nun ihre erneuernde Wirkung entfalten.

Lin Wangs Musik versucht wie so häufig den Brückenschlag zwischen traditionellen Elementen ihrer chinesischen Heimat und westlichen Neue-Musik-Standards. Das ergibt im Aufeinandertreffen des hauptsächlich aus Gästen zusammengesetzten Münchener Kammerorchesters (unter Alexander Liebreich) mit Mundorgel, Wölbbrettzither und chinesischer Laute aparte, fein ausbalancierte Klangmischungen. Eine improvisatorische Einlage als Bühnenmusik (Wu Wei und Xu Fengxia) offenbart überdies das dezente Groove-Potenzial des bewusst konträr zur Tradition verwendeten fernöstlichen Instrumentariums, die Überformung der englischen Gesangstexte mit den Eigenheiten chinesischer Sprachmelodie schaffen eine zusätzliche Distanz zur kryptischen Nicht-Handlung. Die Erkrankung Steffi Lehmanns, die den Part der Jian Yi zwar spielte, aber gesanglich von Nadine Lehner (bravourös) am Bühnenrand gedoubelt werden musste, tat ein Übriges.

Über die knappen eineinhalb Stunden des Abends trägt der diskrete Charme dieser zu keinem Zeitpunkt weltmusikalisch auftrumpfenden Musik nicht. Man kann förmlich zusehen, wie die exotischen Farbpigmente verblassen und am Ende nicht mehr übrig bleibt als die vage Ahnung eines „anderen“, „fernen Klangs“. Womit auch schon das Festivalmotto für 2012 im Raum steht, für das Schrekers Oper Pate stand und unter dem folgende Uraufführungen versammelt sein werden: „L’Absence“, Oper in fünf Akten von Sarah Nemtsov, „Mama dolorosa“ von Eunyoung Kim (Musik) und Yona Kim (Text und Regie), „Die Bibliothek von Babel“ von Matthias Ockert (Musik) und Achim Heidenreich (Text) sowie „Wasser/Republik der Träume“ von Arnulf Herrmann (Musik) und Nico Bleutge (Text).

Jorge Luis Borges’ Vision einer totalen, universellen Büchersammlung: Das ist noch so ein faszinierendes Bild, das freilich erst in ein anderes Medium zu übertragen wäre. Ob ausgerechnet das Musiktheater dazu taugt? Man wird sehen.

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