„Zurück gehört und nach vorn geblickt“ betitelt das Ensemble unitedBerlin sein Jubiläumskonzert zum 30jährigen Bestehen, denn der Blick in die Zukunft aus dem Bewusstsein der eigenen Herkunft heraus gehörte von Anfang an zum Konzept. „Woher kommen wir – wohin gehen wir?“ hieß eine seiner Konzertreihen. Isabel Herzfeld gratuliert und resümiert.
1989 noch in Ost-Berlin gegründet, ergriff es nach dem Mauerfall die einmalige Chance, Musiker aus den bisher getrennten Teilen der Stadt zusammenzubringen, Komponisten aus Ost und West den produktiven Wettstreit zu ermöglichen. Dominierte zunächst noch die Musikszene der alten DDR, vertreten gerade auch durch Komponistinnen wie etwa Juliane Klein oder Ellen Hünigen, so setzte man bald, über jegliche Ost-West-Konfrontation hinaus, Programmschwerpunkte von allgemeiner musikalisch-gesellschaftlicher Brisanz.
Ergiebige Panoramen
Ungemein spannende, ergiebige Panoramen entfalteten allein in den letzten zwei Jahren Projekte wie „Roter Oktober“, „Teheran-Berlin Travellers“, „Claude Vivier“ oder „Bernd Alois Zimmermann“. Bemerkenswert auch, dass binnen 30 Jahren weder interpretatorische Qualität noch Experimentierfreude abgenommen haben, das Engagement so mancher altvertrauter Mitglieder ungebrochen ist. „Die Kontakte haben gehalten“, sagt denn auch Andreas Bräutigam, Gründungsmitglied und Ensemblemanager, darüber hinaus immer noch am ersten Violinpult zu erleben, denn auch in seinem Grußwort. Gemeint ist damit vor allem Vladimir Jurowski, seinerzeit als junger unbekannter Kapellmeister an der Komischen Oper Dirigent der ersten Stunde, nach Jahren des Karriereausbaus als „artistic advisor“ zum Ensemble zurückgekehrt. Hier kann der inzwischen weltweit Tätige sein Engagement für die von ihm für unverzichtbar gehaltene Neue Musik ausleben, fungiert in kleiner Form und Besetzung seiner Auffassung gemäß eher als „Organisator“ oder „Lenker“ des Musizierens denn als sein „einziger Bestimmer“.
Georg Katzers „Szene für Kammerensemble“
Bei „unitedBerlin“ kann Jurowski das gleich mit komödiantischen Mitteln verdeutlichen: In Georg Katzers „Szene für Kammerensemble“ mimt er den Dirigenten-Despoten mit theatralisch ausladenden Bewegungen, denen manchmal gar keine Reaktion folgt, knallt die Partitur, aus rosafarbener Plastiktüte gezerrt, unmutig aufs Pult, holt aus selbiger aber zum Schluss einen kleinen bunten Brummkreisel, dem die Musiker, im Kreis über ihn gebeugt, verzückt lauschen. Ist dies das Geheimnis der Harmonie, welche die Verächter der neuen Musik so wütend verteidigen und die hier von Katzer persiflierend zwischen wilde dissonante Aktionen eingebettet wird? Das 1975 entstandene Stück ist auf mehreren Ebenen bedeutsam: Mit ihm wird des im Mai diesen Jahres verstorbenen Komponisten gedacht, eines besonders engen Weggefährten von unitedBerlin. Zudem erklang es, von Jurowski geleitet, im allerersten Ensemeblekonzert am 11. Februar 1994. Vor allem aber nimmt der Meisterschüler Hanns Eislers damit die „Dummheit in der Musik“ auf's Korn, die sich in der Modernitätsfeindlichkeit so mancher Funktionäre äußerte, gespiegelt durch geflügelte Worte des musikalisch durchaus konservativen Geheimrats Goethe bei einer „Musikalischen Abendunterhaltung“ der Familie Eberwein. („Eberwein übertrifft sich selbst.“) Die Konfrontation der „holden Kunst“ in Gestalt fragmentarisch aufblitzender Zitate aus Mendelssohns Klavierquartett op.1 (das damals für Goethe „zu modern“ war!) mit profanen Verrichtungen wie Putzen und Stimmen der Instrumente, – die auch als Alltagsgegenstände wie Eierlöffel oder Wäscheklammern ihre Geräuschqualitäten beisteuern dürfen, auch als ironischer oder aggressiver Kommentar zu den geflüsterten bis herausgeschrienen Goethe-Worten – mag einiges an Stoßkraft eingebüßt haben.
Die Gewichte sind verändert, wenn sich das Neue konziliant gibt, Traditionelles zur Anbiederung an einen vermeintlichen Publikumsgeschmack aufgreift, das seinerzeit selbst innovativer war. Dennoch ist die „Szene“ erfrischende, intelligent gemachte, ereignisreiche Musik, von einem radikalen, absurden Witz, dessen Machtlosigkeit gegenüber heutigen Problemlagen fast rührt.
Vinko Globokars „Les Soliloques décortiqués“
Vinko Globokar, ebenfalls prägend für unitedBerlin, schreibt dieses „instrumentales Theater“ in „Les Soliloques décortiqués“ (sezierte Selbstgespräche) im Jahr 2016 viel abstrakter fort, auch wenn auch hier Wasser aus einem roten und einem blauen Becher in einen Eimer gegossen wird. Viel Geräuschhaftes wird Mundstücken, exotischem Schlagwerk und Synthesizer abgewonnen, Sprachfetzen, von den Musikern immer wieder zu sprechen und zu singen, bleiben auch bei relativer Textverständlichkeit unbegreifbar und letztlich bloßes Kolorit. Und doch entwickeln all diese quirligen, minimalistischen Klangerzeugungen, quäkend, zwitschernd, flirrend, durchbrochen von langgehaltenen, dumpfen Basstönen, eine glühende Expressivität von starker Sogwirkung.
Gewiss atmet dieses 2017 in Köln uraufgeführte Stück, für das der 85jährige Komponist viel Beifall entgegennehmen konnte, den Geist der vielgescholtenen Siebziger Jahre, doch hat es deren Unarten, die Materialhuberei und eine leicht pubertäre Renitenz, überwunden. Dass Kommunikation und Improvisation eine große Rolle spielen, mithin ein Teil der Verantwortung für das Werk an die Ausführenden abgegeben wird, führt niemals zu Leerlauf, erzeugt im Gegenteil Lebendigkeit. Wie in einer funktionierenden, aber nicht steril-pragmatischen Wohngemeinschaft gehen hier alle Elemente kreative Beziehungen ein, ohne in chaotisches Ungleichgewicht zu geraten.
Hans Jürgen Wenzels „Eröffnungsmusik“
Auf ganz andere Weise kraftvoll ist die sinnigerweise zu Beginn erklingende „Eröffnungsmusik“ von Hans Jürgen Wenzel, ein fast bestürzend dicht und solide gearbeitetes Stück von 1978, das aus den differenzierten Verflechtungen von Flöte, Violoncello und doppelt besetztem Schlagzeug nahezu orchestrale Klangwucht entfaltet und dann wieder in unmerklich bewegte Stille zurücksinkt. Peter Hirsch, ebenfalls dem Ensemble langjährig verbunden und mit dem Zimmermann-Projekt wieder präsent, leitet diesen ersten Konzertteil mit behutsamer Souveränität.
Stefan Beyers „saukalt und windig“
In die Gegenwart führen soll das Auftragswerk an den in Leipzig und Göteberg ausgebildeten, bereits mehrfach preisgekrönten Stefan Beyer, in dessen Werkliste viel japanisch Inspiriertes auftaucht. Doch „saukalt und windig“ – der Titel greift ein Grafitti auf einem DDR-Wachturm auf – bleibt als fraglos sensible Klangfarbenstudie zu sehr an einem gewissen „Vorwende-Tonfall“ haften, kann mit seinen brodelnden Bässen und schneidenden Diskant-Tönen, den schabenden Streicher- und röchelnden Bläsergeräuschen allenfalls als Abgesang auf vergangene – bessere? – Zeiten aufgefasst werden. Auf die soll ja bekanntlich nicht gewartet werden. Dieses Stück kann in 16 Minuten Dauer über gewisse Längen nicht hinwegtäuschen und bleibt nach nochmaligem geräuschvollem Rascheln einfach stehen – insofern vielleicht doch eine Momentaufnahme unserer Gegenwart.