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Ylva Stenberg (Violetta Valéry), Opernchor des DNT (hinten), Staatskapelle Weimar (hinten). Foto: © Candy Welz

Ylva Stenberg (Violetta Valéry), Opernchor des DNT (hinten), Staatskapelle Weimar (hinten). Foto: © Candy Welz

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Im Livestream sterben! – Umjubelte „La traviata“ am Nationaltheater Weimar

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Eine Wahrheit zu erfinden sei besser als das Imitieren von Wahrheit – so pointierte Giuseppe Verdi einmal. Andrea Moses beherzigte das am Nationaltheater Weimar und wuchtete die 1853 in Venedig ausgepfiffene, aber dann Topseller aufrauschende Dokuoper über Leben, Wa(h)re Liebe, Krankheit und Tod der Kurtisane Violetta Valéry (frei nach dem Leben ihres historischen Vorbilds Marie Duplessis) in die Gegenwart. Dominik Beykirch lieferte mit der Staatskapelle Weimar den angemessenen Sound mit knackfrischen „Elektroakustischen Inlays“ von Brigitta Muntendorf. Yiva Stenberg ist eine extrem gute Violetta und Taejun Kim überaus feiner Alfredo an der Spitze einer satten spielfreudigen Ensembleleistung. 

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Die Klassikerstadt Weimar assoziiert man gemeinhin kaum mit Verdi. Das ändert sich derzeit rapide. Sie bürsteten den inzwischen fast immer ohne Champagneroperetten-Flair gespielten Verdi-Blockbuster „La traviata“ ganz gewiss nicht gegen den Strich. Es gelang eine Schaudern machende Gegenwartstopographie. Nicht die „Vom Wege Abgewichene“ oder „ Gestrauchelte“, sondern die über des Klinge des Systems springende und sich diesem mit Herz, Seele und Verstand ausliefernde Ikone Violetta Valéry stand im Zentrum. Verdis Verdichtung des Romans „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas ereignete sich analog zu den vier Bildern der Oper in den Kategorien Action Art, Landlust, Queer Pride und Streaming ohne Tabu.

Raimund Bauers Kasten ist ein schwarzes Loch. Diesen füllt ein knallbunt quietschfideles Party-Volk in Anja Rabes’ überzeichnet und deshalb stimmigen Gegenwartskostümen für multiple Egotrips. Dieser Space ist Kunstatelier, Schlafzimmer und Broadcasting-Studio einer Frau, welche autonom, freiwillig und lustvoll die eigene Haut, die Liebe, die Entsagung, ihre Kunstproduktion und noch das eigene Leben verdinglicht. Geldscheine wirbeln immer wieder und nicht nur, wenn der einer früheren Moralgeneration zugehörige Alfredo aus vermögender wie wertkonservativer Familie der Geliebten Violetta ‚heimzahlt‘, was sie auf äußeren Zwang durch Alfredos Vater verbockt: die Treue, das Vertrauen, die Loyalität. 

Denn es ist gerade eine konform hemmungslose Selbständigkeit, mit der Violetta ihr schrilles Leben und den drastisch frühen Tod finalisiert: Die Schmerzlichkeit ihres Sterbens federt Violettas erst durch Injektionen und Koks etwas ab, macht es dann als Kombi von einem letzten Kuscheln mit Alfredo, Selbstporträt als (Retro-)Heiliger Jungfrau und drastischer Körperlichkeit zum Livestream. Gelackmeierte sind also der Jura-Student Alfredo und sein Vater Giorgio Germont, die bei dem Treiben der tonangebenden Generation längst nicht mehr mitkommen. Fast bedeutender als der Lover geraten Doktor Grenvil, den Guido Jentjens auf den Partys als Superbitch im Lederkilt gibt und der trotzdem ein empathischer Arzt ist, sowie Annina, Violettas zur Hauptfigur aufgewertete ‚cameriera‘. Sie wird Violettas Stagemanagerin und heimliche Liebende. Sarah Mehnert verkörpert die Partie raumgreifend. Sie ist feurige Assistentin, eiskalte Bodyguard und Nudelsalat-Fetischistin. 

Wie immer nährt sich bei Moses und ihrem Dramaturgen Michael Höppner die mit sarkastischer Komik durchsetzte Studie aus dem Tagesgeschehen. Drinnen und draußen – Verdis Musikdrama aus dem Geist der Opéra-comique erhält Einlagen mit ‚elektroakustischen Inlays‘ von Brigitta Muntendorf. Diese setzte Basic Beats und generierte kontrastierende, immer respektvolle Soundclouds neben Verdi. 

Bravourös spielt und singt der angemessen exaltierte Opernchor (par excellence gecoacht von Jens Petereit): „My sex my rule“ steht auf einem Shirt. In der spanischen Soirée bei Flora Bervoix mimen die Frauen postfeministische Hennenkarikaturen, denen ein extrem haariger Stier (Jörn Eichler als Gaston) und die Herren Toreros mit aus dem Schritt pimmelnden 23-Zentimeter-Gemächten nachpirschen. Muntendorfs letztes Inlay gilt dem Karnevalschor draußen mit Videobildern von dem durch Rechtsextremisten aufgemischten Bautzner CSD im August 2024. Oper als Aufhänger für Tagesthemen und Gegenwartsspiegel ohne Kommentar! Im Chor sind so ziemlich alle Superstars und gängigen Hipster-Muster vertreten. Die Fülle der Individuen führt dann doch wieder in die amorphe Vermassung. 

Das alles funktioniert auch, weil Dominik Beykirch und die Staatskapelle Weimar – inklusive Statisterie und Bühnenmusik – diese fetzige Soziotopographie mit Verdis ureigenen Mitteln durchfurchen. Zu Beginn der berühmten Vorspiele also kein elegisches Säuseln, sondern sehniger Streicherklang, der sich immer wieder gegen die substanziell herausgeholten Nebenstimmen behaupten muss. Aber auch gegen die lyrisch-kraftvolle Haltung der gesamten Besetzung! Beykirch nimmt sich Zeit bei den sonst beiläufig abgespulten Miniszenen. 

Anninas Dominanz wird stabilisiert durch deren handgreifliches Stutenbeißen mit der Szenequeen Flora (Luxus-Besetzung: Sayaka Shigeshima). Ausgerechnet Violettas temporärer Begleiter Douphol gibt eine blasse Niete im silbergrauen Anzug (Ilya Silchuk). Andreas Koch als Obigny, Walter Farmer Hart als Tattoo Artist Giuseppe, Taehwan Kim als Floras Diener, Oliver Luhn als Gelegenheitspostbote setzen pränante Sekundenlichter. Überhaupt: Viele geöffnete Striche steigern diese „Traviata“ zum gewichtig leichtfertigen Präzisionsspektakel. 

Wohl keine Absicht: Taejun Sun singt schmelzend und braucht deshalb in der Auseinandersetzung mit dem offenbar im Unionskreisverband sitzenden Vater Germont dann schon Axt und Flinte. Als Kontrastfolie zur expressiv und trotzdem schön sterbenden Violetta taugt dieser Alfred glänzend. Übereinkunft von Musik und Szene: Leicht knarzig nimmt Jochen Kupfer die Vater-Germont-Arie in voller Länge mit Polka-Finale, die Staatskapelle unterlegt das mit vorsätzlich klebriger Ölspur. 

Moses’ Studie greift weit tiefer als ein Divenporträt, macht keinen Privatreport und bringt die drastischen Wahrheiten durch blitzblanke Figurenpolitur ans Licht: Yiva Stenberg hat nach ihrer silbrigen Bellini-Giulietta fulminant zugelegt – an Stimme und Intensität. Verdis extreme Drei-Sopranfächerpartie durchmisst sie mit flirrender Lyrik, Klarheit und immer vollem Ton. Es reihen sich vier Stationen von dem, was man früher Schicksal nannte. Auf die Kunstfigur, die Papier, Wände und Wäsche bekritzelnde Multiartist, folgt im Landlust-Bild das Soziogramm. Zum Eklat erscheint sie als blonde Wolke und bleibt ihrer aufgestylten Community immer um eine Nasenlänge Speed voraus. Diese Violetta agiert an der Schnittstelle zwischen Marina Abramović und Nan-Goldin-Modell. Aber Betroffenheitstheater war hier ebenso wenig beabsichtigt wie bei Moses’a „Silbersee“, „The Circle“ und „Aida“. Oper gerät am DNT Weimar zum Clone aus TV und Youtube, pfeilscharf und prickelnd. Das ausverkaufte Haus jubelte.

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