Es ist jedes Jahr erneut beeindruckend: das Gebäude des Kraftwerks Berlin in Mitte. Schon lange Zeit nicht mehr in Betrieb und daher - bis auf eine funktionslose Schalterhalle – leergeräumt, wirkt sie wie eine Kathedrale der Industriekultur. Hier bildet die 29-stündige Performance „The Long Now“ seit ein paar Jahren den Abschluss der MaerzMusik.
Es gibt Live-Musik mit alten Musikinstrumenten und elektronisch erzeugte Klänge. Es gibt auf anderen Ebenen gleichzeitig Filme zu sehen oder Videoinstallation, ebenso wie Werke skulpturaler Kunst. Man kann sich Liegen ergattern und die Zeit zum Schlafen nutzen oder zum Dösen. Es gibt eine Raucherecke, es gibt eine Essecke. Rundumversorgung für eine ästhetische Ausnahmesituation. Oder man bewegt sich, man drängelt sich vor der Bühne unter dem rot leuchtenden Zeichen der Berliner Festspiele. Es hat etwas Sakrales, etwas Meditatives, es hat etwas Überwältigendes und etwas Dräuendes. Alles zusammen oder in Teilen. Raum für Raum, mal eng, mal gewaltig. Es riecht nicht nach Weihrauch, höchstens fallweise nach verglommenem Gras.
Das Publikum eher jünger, mit Inseln älterer Zeitgenossinnen dazwischen. Man lässt sich akustisch überraschen, auch mal einlullen. In den 29 Stunden hat man Zeit. In den 29 Stunden haben bestimmte musikalische Vorstellungen Zeit. Die gespielten Stücke oder Improvisationen dürfen sich in diesem üppigen Rahmen entfalten. Nur keine Hatz, nur keine Eile.
Ob nun bei Morton Feldmans über vierstündigem „For Philip Guston“ oder bei der Improvisation von den „Necks“ und dem ‘A’-Trio, die sich im Spiel zusammenfanden und sich Zeit und Muße nahmen für lange Entwicklungen mit kleinen Elementen. Ein Beckenschlag, wiederholt, über bestimmt eine halbe Stunde, im zarten Ton, umspielt von bis ins Geräusch reichenden umherflirrenden Nebenimpulsen, sich extrem langsam verdichtend und steigernd. Begleitet von einer dezenten Lichtregie, die gelegentlich blendende Akzente setzte – in einem Umraum, der insgesamt vor allem dunkel war. Das ist suggestiv, dem kann man sich kaum entziehen. Warum auch, deshalb ist man ja da. So wie man in die Oper geht, um Musiktheater zu bekommen, bekommt man bei The Long Now ein gedehntes Zeiterleben.
Reduktion zu Komplexität
Die Sache ist durchaus paradox, denn es handelt sich um den Vorgang einer Reduktion auf zunehmende Komplexität. Dinge, Prozesse, die einmal angestoßen wurden und dann dem Zeitverlauf überlassen werden, können eine geradezu irreale Vielfalt, Mehr- und Gegendeutigkeit entwickeln, einfach dadurch, dass sie das tun, was sie tun. Eis zum Beispiel schmelzen lassen, ein bisschen Input hinzufügen durch flüssige Farbe und dann dem Zerfall über lange Zeit folgen. Der Entwicklungsprozess des Zerfalls ist nicht schon deshalb so herausfordernd, weil man das Ende ja aus der Erfahrung kennt, den Weg dahin aber nicht voraussehen kann.
Die Kuratoren von The Long Now machen an diesem Punkt vieles einfach richtig – ob es in der Absicht nun lag oder nicht. Vor zwei Jahren mit einem Number-Stück von John Cage, letztes Jahr mit Alvin Luciers „I’m sitting in a room“ und jetzt – durchaus riskanter mit den „Necks“ und dem ‘A’-Trio. Vor allem aber mit der Eisblock-Installation „Xu Long“ von Material Matano. Da stehen Eisblöcke auf Podesten, von Strahlern pointiert beleuchtet (siehe Fotos) und teilweise auch mit einer Flüssigkeit gefüllt. Die dadurch entstehenden Lichtbrechungen sind jede Sekunde lebendig schön. Die Oberflächen wirken durch das schmelzende Wasser faszinierend glatt. Die Risse oben, durch die die farbige Flüssigkeit eingeführt wurde, erscheinen verführerisch, doch auch etwas gefährlich. Die Besucher bei „The Long Now“ waren in diesem Raum gerne und hielten sich lange auf. Für Selfies, für eigene Bilder, erfasst vom Staunen.
Eine Installation wie im musikalischer Improvisationsprozess, den man zeitlich auf einer anderen Ebene mit dem Sextett aus ‘A’-Trio und den „Necks“ musikalisch verfolgen konnte.
Solch ein Sog in Zeitlupe! Wobei, das wäre noch genauer zu fassen: Eine durch den Einsatz von pharmazeutischen Mitteln, die ein Verlangsamung der Wahrnehmung hervorrufen, erzeugte Realität verzerrt die Weltansicht, ohne dass man dies selbst noch frei steuern kann. Die Verzerrung der „Gegenwart“ und des „Jetzts“ oder des „Augenblicks“ (der angeblich sieben Sekunden dauert) bei The Long Now unterscheidet sich dadurch, dass man jeden Moment da heraustreten, dass man sich dem Sog sich augenblicklich entziehen kann.
Natürlich ist das auch kitschig. Natürlich ist das auch banal. Natürlich ist das auch Event-Kunst. Natürlich muss man sich da reinfallenlassen – mit hoher kognitiver Perspektive oder auch nicht. Man hat ja die Wahl! Man kann bleiben oder man geht einfach. Am Ende der Veranstaltung werden schließlich keine Teppiche oder Mantratzen (sic!) verkauft.