Periodisch wird das traditionelle Konzert immer wieder für tot erklärt. Auch Berno Odo Polzer, der neue Chef des MaerzMusik-Festivals, hält diese Veranstaltungsform für überlebt. In der ersten von ihm betreuten MaerzMusik sollte es deshalb kein einziges Konzert geben, das der Konvention entspricht. Polzer wollte vielmehr „Erlebnisräume“ schaffen, bei denen die Zeit stille steht und das Zeitgefühl verloren geht. Um dies zu erzielen, ließ er beispielsweise – wie beim Streichquartett Nr. 3 von Georg Friedrich Haas – im Dunkeln musizieren. Vor allem ging er mit der Zeit, „unserem kostbarsten Gut“, verschwenderisch um. Er wählte Musik, bei der es auf eine Stunde mehr oder weniger offenbar nicht ankommt, und ließ dies auch das Publikum merken. So stand man im Haus der Berliner Festspiele oft in einer Warteschlange, ohne Gründe für den verspäteten Beginn zu erfahren. Obwohl die MaerzMusik neuerdings zum „Festival für Zeitfragen“ wurde, waren allzu genaue Fragen nach der Zeit nicht erwünscht.
Zur Eröffnung wurde das Publikum in die Seitenbühne des Festspielhauses geleitet, wo im Party-Halbdunkel mehrere Ensembles auf vier Bühnen spielten. Was dort unter dem Titel „Liquid Room“ angeboten wurde, war allerdings nichts wirklich Neues, sondern eine Variante der bewährten Wandelkonzerte der siebziger Jahre. Das belgische Ictus-Ensemble war mit dieser Form schon mehrfach aufgetreten (so 2012 bei den Darmstädter Ferienkursen) und bot nun in Berlin eine vierstündige DeLuxe-Ausgabe. Unterstützt vom Berliner Ensemble Mosaik brachte es Stücke unter anderem von Michael Gordon, Kaj Duncan David, François Sarhan, Bernhard Gander, Pierluigi Billone und Alvin Lucier zu Gehör, in denen schnelle Ostinati und gleichförmige Triangelschläge mit Discolärm abwechselten oder überblendet wurden. Der „verflüssigte Raum“ sollte „eine Art Livestreaming von Musik“, eine „Gesamterfahrung zwischen Installation und Performance“ ermöglichen, wie sie angeblich der nomadischen Lebensform des modernen Menschen entspricht. Die meisten Besucher blieben allerdings unbewegt an einem Ort stehen oder sitzen und drehten ihre Köpfe nur nach den wechselnden Klangquellen. Etwa nach zwei Stunden begann der Prozess der Abwanderung, nachhause oder zur Bar.
Informationsverweigerung als Strategie
Frühere MaerzMusik-Festivals hatten die Besucher noch mit Programmheften versorgt und ihnen so die Möglichkeit gegeben, sich auf die Konzerte vorzubereiten. In der diesjährigen MaerzMusik suchte man vergeblich nach solchem Service. Anstelle von Werkanalysen, Komponisten- und Künstlerbiografien gab es dürftige Zettel mit nackten Ablaufplänen, hin und wieder durch Zitate bereichert. Hinter dieser Informationsverweigerung steht eine bewusste Strategie. Polzer glaubt, damit die Spontaneität des Hörers zu fördern. „Man verliert durch das Wissen originäre Zugänge und Überraschungen“.
Tatsächlich leuchtete nicht wenige der erklingenden Musik auch ohne theoretische Vorbereitung sofort ein. So erzeugten Eva Reiter und Susanne Fröhlich bei „Seascape“ von Fausto Romitelli an ihren Paetzold-Kontrabassflöten, Monstren, hinter denen die Spielerinnen fast verschwanden, ein wohliges tiefes Rauschen.
Die Bordunklänge in Cédric Dambrains „Prototype solo“ erinnerten an New-Age-Musik. Die pulsierenden Rockelemente in Mario Garutis „Bezel“ für zwei Paetzoldflöten waren ebenso spontan erfassbar, allerdings auch nicht übermäßig originell. An einem anderen Abend entpuppte sich „Longitude“ für Flöte, Kontrabassklarinette, Violoncello, Klavier, Schlagzeug und Elektronik von Davið Brynjar Franzson „Longitude“ als eine Abfolge künstlich nachgeschaffener Verkehrsgeräusche. So etwa ist die tägliche Klangkulisse für jemanden, der dicht neben einer Autobahn wohnt.
Eine zentrale Kategorie des Politischen?
Während den Konzertbesuchern sogar nötigste Hintergrundinformationen vorenthalten wurden, betrieb eine zehntägige Konferenz „Thinking Together – The Politics of Time“ viel theoretischen Aufwand. Diese transdisziplinäre Plattform, mit der Polzer den „Open Space“ der Darmstädter Ferienkurse weiterführte, unterschied zwischen face time, clock time, linear time und cultural time et cetera und widmete sich unter anderem mit dem Schlingensief-Assistenten Julian Pörksen der gezielten Zeitverschwendung. Hier erhielt man sogar eine Broschüre mit Biografien der von nah und fern angereisten Referenten und Zusammenfassungen ihrer Referate. Allerdings verschreckte der konsequente Verzicht auf die deutsche Sprache potentielle Zuhörer.
Erstaunt erlebte man beispielsweise, wie der Italiener Maurizio Lazzarato seine Gedanken zu „Time and Neoliberal Condition“ zuerst auf Französisch vortrug, um sie dann ins Englische übersetzen zu lassen. Diese Art des Sprachgebrauchs machte den versprochenen öffentlichen Ort der Auseinandersetzung zum Rückzugsgebiet für Experten.
„Wer sich dem Phänomen der Zeit widmet, hört anders hin, erlebt Räume und die Gesellschaft anders und denkt über Politik neu nach“, hatte Festspiel-Intendant Thomas Oberender versprochen. Für Berno Polzer ist die Zeit sogar die „zentrale Kategorie des Politischen“. Das neugestaltete Festival sollte ein Ort sein, der sich mit unserer Gegenwart „in all ihrer Komplexität beschäftigt“. Große Worte! Zu den wenigen Veranstaltungen, die von diesem politischen Anspruch etwas spüren ließen, gehörten die beiden Musiktheater-Projekte KREDIT und RECHT des Filmemachers Daniel Kötter und des Komponisten Hannes Seidl. In KREDIT beobachtete die Kamera Frankfurter Banker bei ihrer Arbeit. Man sah korrekt gekleidete Herren in ihren Büros, in langen Gängen, in der Mittagspause oder am Abend. Aparterweise wurde der Film ohne Ton gezeigt und die Tonspur live auf der Bühne nachproduziert. Zwei Synchronsprecher (André Schmidt und Dunja Funke) wechselten virtuos zwischen Radionachrichten, Börsianer-Dialogen, Kneipengesprächen und Unterhaltungssendungen. Ein Geräuschemacher, der synchron zum Bild Schritte, Papierrascheln oder zuschlagende Türen imitierte, wurde durch zwei Personen an Synthesizern ergänzt. Die originelle Form und die perfekte Synchronität dieser künstlich nachgeschaffenen Klangkulisse trösteten darüber hinweg, dass die Geheimnisse des Finanzsystems völlig unverständlich blieben. Da auch ein „Chor der Deutschen Bundesbank“ sang, war das Ganze als „Stummfilm-Oratorium“ deklariert.
Auch die Film-Performance RECHT wollte Unsichtbares sichtbar machen. Dazu hatten Daniel Kötter und Hannes Seidl auf einer kleinen Insel in der Mosel für 24 Stunden eine „Gelehrtenrepublik“ inszeniert. Sechs Rechtswissenschaftler, ergänzt durch Kinder, Tiere und ein Musikerensemble, entwarfen hier Grundlagen einer allgemeingültigen Rechtsordnung, die sie niederschrieben und einem Boten übergaben. Der Film begann mit Anflug und Landung auf der Insel und endete unter Wasser in den Tiefen der Mosel.
Während in KREDIT die Tonspur des Filmes fehlte, wurde sie in RECHT verdoppelt, indem nämlich die Protagonisten leibhaftig auf die Bühne traten, viele mit Musikinstrumenten versehen. Offen blieb, welchen Beitrag die Musik bei der Rechtsdiskussion leistete. Verdankte sich ihr mehr als nur eine anregende Party-Stimmung? Immerhin erhielt zum Schluss jeder Besucher die rote Mappe mit dem Gesetzentwurf ausgehändigt und konnte sich somit seine eigenen Gedanken dazu machen.
Georges Aperghis zum 70. Geburtstag
Den lohnendsten Teil des Festivals bildete das mehrteilige Porträt des seit 1965 in Paris lebenden griechisch-stämmigen Komponisten Georges Aperghis, der auch persönlich erschienen war. Seine „Récitations für Stimme solo“ (1977/78) mit der Sängerin Donatienne Michel-Dansac bildete einen fulminanten Auftakt. Nach überaus schnellem Sprechgesang, im Wechsel von Haltetönen und Tonrepetitionen, erinnerte das zweite Stück mit seiner Verbindung von Sprechen und Rufen an die wenig artikulierte Sprache von Taubstummen. Auch Lachen und Weinen sowie Ostinato-Loops wurden der Interpretin zugemutet. Zum Schluss schien es ihr mit gestauter Luft den Atem zu verschlagen. Sie endete mit einem großen Seufzer und wechselte dabei von der bis dahin verwendeten französischen Alltagssprache ins Spanische. Statt der auf dem Programmzettel vermerkten 40 Minuten dauerte die Aufführung allerdings 60 Minuten. Bei einem Festival für Zeitfragen hätte man genauere Angaben zur Werkdauer erwartet. Wer dann auf der Webseite der MaerzMusik nach Informationen über die Sängerin suchte, erfuhr dort: „Deutsche Biografie in Kürze erhältlich.“ Es ist eben alles nur eine Frage der Zeit …
Seine „Situations“ für 23 Solisten hatte Aperghis 2013 für die Musikerinnen und Musiker des Klangforums Wien geschrieben. Es handelt sich um eine Reihe musikalischer Einzelporträts der Musiker und ihrer Charaktere. So ließ Aperghis den russischen Akkordeonspieler Krassimir Sterev ein Puschkin-Gedicht rezitieren. Der Pianist Florian Müller, der dem Komponisten als besonders schweigsam erschien, trug einen Canetti-Text über das Schweigen vor. Aperghis definierte orchestrales Zusammenspiel als soziale Frage: Wie kann man zusammen leben, ohne die Individualität preiszugeben? Als Antwort auf diese Frage ergab sich ein zwischen Soli und Tutti, Spielen, Sprechen und Singen wechselndes Stück voller faszinierender Sprünge und Überraschungen. Wie viel Humor Apherghis daneben auch noch besitzt, war seiner Komposition „Machinations“ anzumerken, bei der vier Interpretinnen in grotesker Genauigkeit ihrer absurden Bildschirmarbeit nachgingen.
Zeitverschwendung?
Das Festival endete mit „The Long Now“, einer Veranstaltung von insgesamt 30 Stunden Dauer im gigantischen Gebäude des Kraftwerks Berlin. Gedacht war bei diesem „Langen Jetzt“ an eine „Zeitblase, die sich von der Taktung der Außenwelt lossagt“. Am ehesten passten zwei Werke Morton Feldmans, sein fünfstündiges Streichquartett Nr. 2 und die Triadic Memories for piano in dieses Konzept. Auf Stühlen sitzend oder auf Feldbetten liegend konnte man die meditativen Akkordwechsel hören, ihr Verklingen im Raum verfolgen und einen großformalen Rhythmus entdecken. Viel weniger befriedigend wirkten dagegen das laute Donnergrollen von Pierluigi Billones Sgorgo-Stücken für E-Gitarre oder die langsam verhallenden Dreiklänge eines Dreistunden-Tientos von Thomas Köner. Überaus geduldig ließ das Publikum diese Dauerberieselung als „Livestream“ über sich ergehen. Fraglich bleibt, wieweit sich beim Betrachten endloser Filmprojektionen für manche Besucher die Zeitwahrnehmung änderte oder ihnen gar die Tage und Stunden im „Flug vergingen“. Andere Musikhörer, der Autor dieser Zeilen inbegriffen, dürften dagegen den verschwenderischen Umgang mit Zeit als Zeitverschwendung, als „waste of time“, empfunden haben.
Eine Reportage zum Eröffnungsabend „Liquid Room“ von Katharina Granzin mit Fotos des HuPe-kollektiv (Basche/Hufner) finden Sie in der aktuellen Ausgabe des Magazins von nmz und jazzzeitung.de
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