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George Gagnidze (Bojar Schaklowity), Mika Kares (Fürst Iwan Chowanski) und Ensemble. Foto: Monika Rittershaus

George Gagnidze (Bojar Schaklowity), Mika Kares (Fürst Iwan Chowanski) und Ensemble. Foto: Monika Rittershaus

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Im Schlachthaus mit Professor Knopp – „Chowanschtschina“ an der Staatsoper unter den Linden

Vorspann / Teaser

Weiträumig abgesperrt steht an einem Ende der einstigen reichsdeutschen Via Regia finster die Botschaft der Sowjetunion, Pardon: der Russischen Föderation. An dem anderen die ehemalige Hofoper. Daneben am Bebelplatz, wo einst Bücher verbrannt wurden, findet gerade ein Konzert für die Geiseln der Hamas statt; über der Humboldt-Universität und dem einstigen Waffenlager des Zeughauses (heute Deutsches Historisches Museum!) ukrainische Fahnen, über der Kuppel des nachgebauten Stadtschlosses ein Kreuz fragwürdiger Provenienz. Geschichte, ein Haufen Bilder, Zeichen und Ruinen, geordnet und gedeutet nach unterschiedlichen Ansagen. Dass solcherlei Ordnungsmaßnahmen vorausgeht, was späterhin gern als Saustall bezeichnet werden sollte, das war in vielerlei Hinsicht eindrucksvoll eben an der Berliner Staatsoper zu erleben bei Mussorgskys „Chowanschtschina“, der, der russischen Nachsilbe -schtschina nachgehorcht, Chose der Chowanskis, ihrer Schweinerei sowie der Schweinerei, die man die Macht der Geschichte nennen kann.

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Und so wie die Botschaft auf der Prachtmeile lastet, so drückt ganz buchstäblich das Präsidialbüro im gegenwärtigen Kreml auf dieser Geschichte. Zum Vorspiel, der Morgendämmerung an der Moskva, ordnet ein Bediensteter den Arbeitsplatz des aktuellen Machthabers, der ausgezeichnet ist mit der Statue Peters des Großen sowie einem leibhaftigen Preobraschenski-Gardisten. Am Schluss dann wird der Diener die Akten wieder abräumen, nachdem sich das Büro auf die Handlung wie eine riesige Blutpresse unerbittlich herabgesenkt haben wird. Im historischen Gewand geht und steht die Macht über Leichen, wie es uns nicht zuletzt der Historiograph Putin lehrt.

Und tatsächlich schreiben oder schieben sich wenigen Produktionen die Zeitläufte dermaßen ein, wie den nun endlich nach vier Jahren Verzug an der Linden-Oper herausgekommenen musikalischen Volksszenen Mussorgskys. Erst coronabedingt abgesagt und dann von der sogenannten Militärischen Spezialaktion ein- und überholt, vervielfachte sich für das Team um Claus Guth der Druck des Historischen um die zeitgeschichtlichen und aktuellen Ereignisse. Den Widerschein und Wiederholungszwang der russischen Wirren Ende des 17. Jahrhunderts erfahrbar zu machen, „das Vergangene im Gegenwärtigen“ zu fassen und es auszukomponieren, das war schon für den Komponisten selbst zu viel, um ein Werk im herkömmlichen Sinn zu hinterlassen. Er verschlang regelrecht Quellen und Berichte über diese Zeit, die blutigen Händel zwischen Traditionalisten und Westlern, Altgläubigen und Reformern, feudalen Strelitzen und absolutistischen Petrowzen, und er schien von der Vorstellung besessen, ein Ereignis nach dem anderen in die Oper zu integrieren, nur um so ein offenes Werk im späteren, modernen Sinne zu hinterlassen, eines, dem die bestehenden musikalischen Formen unter dem Druck der Realgeschichte schlicht zerbersten. Und ja, da wäre auch noch die für den Handlungsablauf notwendige Geschichte, um das Bühnengeschehen für das Publikum einigermaßen fassbar zu machen – wer ist wer? Und warum? … –, denn nicht Jede*r hat die russische Geschichte parat.

Eine Art von dokumentarischem Reenactment à la ZDF History

Guth verarbeitete den Druck zu einer Art von dokumentarischem Reenactment à la ZDF History (heute Terra X History), wo Forscher*innen oder Archivar*innen im Hier und Jetzt die Figuren und ihre Handlungen erläutern, am Laptop schreibend ebenso, wie sie als in apricotfarbene Laborkittel gewandete Spielleiter*innen auf der Bühne die Personenführung besorgen. Das hat Methode, gibt aber leider kein Theater ab, das Mussorgskys episch aneinandergereihte Szenen dann doch sind. Texteinblendungen, Zwischentitel, Beschriftungen der dramatis personae, Ausschnitte relevanter Historiengemälde, das alles erheischt viel Aufmerksamkeit, gleichermaßen die live Videos (Roland Horvath) und Großaufnahmen in schier Eisensteinscher Grobkörnigkeit und Lichtdramaturgie. Im Verbund mit dem eher ungelenken Agieren des Laborpersonals macht das alles es einem sehr schwer, der Musik zu folgen, wo sie in ihrer karg-kantigen Fassung Schostakowitschs aller geschärften Aufmerksamkeit wert ist. Guido Knopp hätte mit Sicherheit auf den Breitwandsound Rimsky-Korsakows gesetzt, schon um von der Unechtheit seiner Spielszenen abzulenken. 

Nun wäre Claus Guth nicht der Opernregisseur von Rang, der er ist, gelängen ihm nicht auch in diesem Set bezwingende Szenen. Der Monolog des Intriganten Schaklowity (bewegend: George Gagnidze) über das Elend Russlands, illustriert mit Filmeinspielern von Volksaufläufen aus vorrevolutionären Zeiten bis zum Nawalny-Begräbnis, gehört nicht dazu. Dieser Einbruch des Dokumentarischen bleibt dekorativ, wirkt – erinnern wir uns an Henzes Ho-Chi-Min-Chöre oder etwa an Zimmermanns Requiem – eben nicht echt. 

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Mika Kares (Fürst Iwan Chowanski) und Ensemble. Foto: Monika Rittershaus

Mika Kares (Fürst Iwan Chowanski) und Ensemble. Foto: Monika Rittershaus

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Auf jeden Fall dazu gehört aber Marfas Szene im dritten Akt, in der die Musik, die großartige Marina Prudenskaya, über Rosen und Dornen schreitend, das Set in jeglicher Hinsicht überragen, um dann nur umso eindrucksvoller dem Wahn von Liebe und Glauben anheimzufallen. Das hört, sieht und fühlt man, ebenso wie die andere, alles umwerfende Szene, an der Claus Guth sein Geschichtswerkstatt-Konzept klugerweise zerbrechen lässt. Ivan Chowanski, der Strelitzen- und Rädelsführer, übrigens ein Prigoschin wie er im Buche steht, befiehlt in düsterer Vorahnung seines baldigen Untergangs noch einmal spaßeshalber zum Tanz seiner persischen Sklavinnen. Bei Guth sind es Derwische, in deren rotierender Ekstase, ihrem Weg zu Gott, der besoffene Chowanski einen jeden von ihnen nacheinander abschlachtet. Macht, Geilheit und Suff, so wie sie der hier darstellerisch und sonst auch sängerisch überwältigende Mika Kares in dieser Szene auf die Bühne bringt, fegen das bisherige Musiktheater aus zweiter Hand hinweg. Und es ist nur folgerichtig, dass, bevor Chowanski selbst abgestochen wird, ihm noch einige der Geschichtslaboranten vors Messer kommen und draufgehen müssen. Was die Überlebenden vom ZDF History-Team zwingt einzupacken.

… ebenso durchdacht wie überladen …

Dennoch, das Uneigentliche des Musikdramatischen bleibt ein Schwachpunkt der ebenso durchdachten wie überladenen Produktion. Schade, weil auf sehr hohem Niveau gespielt und gesungen wird. Simone Young, in dieser Übergangszeit an der Staatsoper eine der tragenden Dirigentinnen dort, lässt keinen Gedanken an den ursprünglich vor vier Jahren vorgesehenen Vladimir Jurowski aufkommen. Sie hält die Musik im kristallklaren Fluss, dabei kongenial unterstützt von einer Staatskapelle, die zwar gar nicht russisch klingt, dafür aber dem Grauen reichlich orchestralen Samt umhängt. Taras Shtonda als auch stimmlich Ehrfurcht gebietender Dossifei, Weiser und reaktionärer Fundamentalist zugleich; Stephan Rügamer als Golitzyn und Charaktertenor par excellence sein ränkischer Gegenspieler; Najmiddin Mavlyanovs Chowanski junior, aufbrausender dummer Junge und Häufchen Elend; Evelin Novak als verfolgte Unschuld Emma und Anna Samuil als reaktionär eifernde Hexe; nicht zuletzt der viel geforderte, beeindruckende Staatsopernchor, die kollektive Hauptrolle dieses Volksdramas. Durch den Gestus des Zeigens und Vorführens, des Beispielgebens, den die Inszenierung pflegt, verlieren sie, bis auf die erwähnten Ausnahmen, immer ein Stück ihrer immensen musikdramatischen Überzeugungskraft. Als ob die Oper vor der Wucht der historischen Bilder in die Knie ginge, sich klein machte, etwa zur Figur Peters des Großen als Kind, das zunächst mit seinen Preobraschenski-Zinnsoldaten spielt, und dann immer wieder, größer geworden, scheinbar bedrohlich durch die Handlung schlendert. Ein historisches Krippenspiel, und es ist gut, dass Guth es selbst im Laufe des Abends umgeworfen hat. Mussorgsky hat ja auch kein Werk hinterlassen, sondern einen Torso, den erst die Professoren Rimsky-Korsakow und Schostakowitsch einer nach dem anderen zum Singen gebracht haben.

Wie umgehen mit dem ganzen blutigen Schweinestall?

Wie also musikdramatisch umgehen mit dem ganzen blutigen Schweinestall, der Macht der Geschichte, ihren Bilder- und Trümmerhaufen und all dem Elend? Mit dem Theater und dem Grauen der Realität? Man muss es halt immer wieder versuchen. Unfair, dass einem die Namen Heiner Müller und Einar Schleef dabei in den Sinn kommen. Beide sind längst tot. Aber an diesem Ort, in diesen Komplexen, da leben die Toten länger. Wie auch zu sehen bei dieser eindrucksvollen Inszenierung.

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