Charlotte Seither, 1965 in der Pfalz geboren, ist noch nicht besonders bekannt, hat aber schon zwei erste Preise bei Komponistenwettbewerben abgeräumt, in Prag und Göttingen. Nun hat sie ihr Operndebüt gegeben, in der Reihe „bonne chance!“ für neues Musiktheater, die die Oper Bonn in der Bundeskunsthalle veranstaltet. Die Oper „Anderes/Selbst“ hat keine Handlung. Sie erzählt in assoziativen Bildern und Klängen von der Unlösbarkeit des Problems, überhaupt ein handlungsfähiges Ich zu entwickeln. Die Komponistin hat ein rätselhaftes Libretto collagiert, das Texte von Ingeborg Bachmann, Angelus Silesius, Francesco Petrarca und aus dem Alten Testament zitiert.
Ein Klopfen und Raunen, ein Atmen und Zischen. Musiker sitzen weiß gekleidet auf der Bühne, zwischen ihnen steht der Chor. Männer und Frauen sehen gleich aus, blonde Doris-Day-Perücken, Trenchcoats, Strumpfhosen, und wenn sie sich ausziehen, sieht man fleischfarbene BHs. Aufspaltungen eines Ichs stellen sie dar, wie eingefroren ist ihr Blick ins Publikum gerichtet. Kurze Laute geben sie von sich, die Teil einer vibrierenden Klangfläche sind, die faszinierend schillert, aber auch ein mulmiges Gefühl verursacht. Charlotte Seither hat subtile Gruselmusik komponiert, und der Regisseur Christoph Ernst findet dazu ein Bild, das in seiner unbewegten Ruhe Angst macht. Man schaut in ein Selbst und findet ein Anderes, Fremdheit statt Kommunikation, Erstarrung statt Zukunft. Charlotte Seither, 1965 in der Pfalz geboren, ist noch nicht besonders bekannt, hat aber schon zwei erste Preise bei Komponistenwettbewerben abgeräumt, in Prag und Göttingen. Nun hat sie ihr Operndebüt gegeben, in der Reihe „bonne chance!“ für neues Musiktheater, die die Oper Bonn in der Bundeskunsthalle veranstaltet. Die Oper „Anderes/Selbst“ hat keine Handlung. Sie erzählt in assoziativen Bildern und Klängen von der Unlösbarkeit des Problems, überhaupt ein handlungsfähiges Ich zu entwickeln. Die Komponistin hat ein rätselhaftes Libretto collagiert, das Texte von Ingeborg Bachmann, Angelus Silesius, Francesco Petrarca und aus dem Alten Testament zitiert. „Im Anfang war der Riss“ steht als Motto über dem Abend. Nicht das Wort, nicht die Tat. Die Partitur ist weitgehend sinfonisch gedacht, mit vielen Schlaginstrumenten und farbenreichen Flötentönen. Einige Musiker sind um das Publikum herum gruppiert und nehmen es leise aber unentrinnbar akustisch in die Zange. Die Sänger singen kaum, Text wird meistens gesprochen. So umgeht Charlotte Seither die Urfrage jeder Oper, wann und warum ein Mensch singt. Sie benutzt die alte Gattungsbezeichnung, nennt ihr Stück nicht „Musiktheater“ oder anders, sondern Oper. Das ist wohl als Herausforderung der Tradition zu verstehen, denn unbedingt nach theatralem Ausdruck strebt diese Musik nicht. Sie wäre problemlos auch ohne Szenerie und Aktion in einem Konzertsaal vorstellbar.Nach dem langen, konzentrierten, starren Anfangsbild kommt etwas Bewegung ins Stück. Die Abschnitte werden kürzer, und Christoph Ernst entwickelt kleine Szenen, die an Tanztheater erinnern. Drei Solisten schälen sich heraus, zwei Frauen und ein Mann. Eine will wegkrabbeln, doch im letzten Moment packt er sie am Bein und zieht sie zurück. Wie in einem Stück von Pina Bausch wiederholt sich dieser Vorgang einige Male, bis sie es dann doch schafft und entkommt. Ein Augenblick der Entwicklung, vielleicht der Hoffnung. Dem widerspricht das eindrucksvollste Bild der Aufführung: Chor und Solisten finden in einem Schrank Hochzeitskleider, ziehen sie an, zücken dann Lippenstifte und malen sich Schnittwunden ins Gesicht und auf die Unterarme. Da sind wir wieder in der Ausweglosigkeit des Horrors, im Spukhaus des eigenen Ichs. Die Ästhetik der Aufsplitterung ergänzt ein Video von Dorothea Wimmer, das ganz andere Impulse in die Aufführung bringt. Hier gibt es einige scheinbar unzusammenhängende, aber berührende Bilder: Eine Frau, die sich mit einem Lolli die Haare aus dem Gesicht streicht, und am Schluss ein Mund, der ein Lächeln andeutet. Wo die Inszenierung eher die Abgründe des Stückes aufzeigt, spiegelt das Video auf eine leichte, unaufdringliche Art die Schönheit der Musik. Denn obwohl sie mit vielen Dissonanzen arbeitet, hat Charlotte Seither ein angenehm zu hörendes Stück geschrieben, das auch tonale Anleihen nicht scheut. Der Chor hat einige lyrische Phrasen zu singen, die an Barock-Choräle erinnern.
Wolfgang Ott dirigiert das Orchester der Beethovenhalle mit viel Sinn für die Feinheiten dieses komplexen, aber niemals kunstgewerblichen Stückes. Charlotte Seither hat eine ehrliche Oper geschrieben, ein Nachdenken über die innere Struktur des Menschen, das auch zu einer Reflexion über die Möglichkeiten zeitgenössischen Musiktheaters wird. So passt „Anderes/Selbst“ ideal in den Rahmen der Reihe „bonne chance!“, die sich genau dieses Ausloten der Grenzen zur Aufgabe gesetzt hat. Mit Charlotte Seither hat die Oper Bonn eine Komponistin entdeckt, die viel zu sagen hat. Die sinfonische Grundstruktur ihrer Partitur ist kein Nachteil, denn sie fordert die Theaterleute radikal zum Mitschaffen heraus. Diese Musik lässt sich nicht konventionell bebildern, sie öffnet szenische Fantasien. Charlotte Seithers Oper kann man nicht nachspielen, jede Neuinszenierung muss die Uraufführung eines neuen Stückes sein, ein „anderes Selbst“.