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Permanentes Accelerando: Dirigent Vimbayi Kaziboni im Geschwindigkeitsrausch bei Georg Friedrich Haas’ neuem Werk für das Ensemble Modern. Foto: SWR/Ralf Brunner
Permanentes Accelerando: Dirigent Vimbayi Kaziboni im Geschwindigkeitsrausch bei Georg Friedrich Haas’ neuem Werk für das Ensemble Modern. Foto: SWR/Ralf Brunner
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Im Widerspiel von Nostalgie und mancherlei Ausblicken

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Donaueschinger Musiktage 2022 oder: Die hundert Jahre plus · Von Gerhard R. Koch
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„Napoleon oder Die hundert Tage“ hieß 1831 Grabbes grimmige Schaupiel-Abrechnung mit des Franzosen-Kaisers Rückkehr aus Elba und finaler Niederlage bei Waterloo, auch als Abgesang auf eine Epoche. Doch auch heute noch gesteht man neuen Regierungen eine quasi Schonfrist von obligaten hundert Tagen zu, um sich programmatisch zu positionieren, erste Erfolge zu buchen, wie Rückschläge zu verkraften. Die Krise bleibt.

Aber was sind schon hundert Tage verglichen mit den hundert Jahren der Donaueschinger Musiktage, bei denen sich erst recht die Ambivalenz der großen runden Zahl auswirkt: als Würde einer mittlerweile großen Tradition, aber nicht minder als Bürde der Verpflichtung, den Fortschritt weiterzutreiben, von dem man ohnehin keineswegs sicher ist, wohin er führen mag – ganz abgesehen davon, dass die Zeitläufte alles andere als geeignet sind, sich in wohlfeiler ästhetischer Immanenz selbstgewiss einzurichten. Nun muss Kunst nicht partout auf aktuelle politische Situationen und Konflikte reagieren und eine Praxis suggerieren, die gar so einfach nicht zu haben ist. Doch radikalere Konzepte waren diesmal kaum präsent. Eher dominierte ein leiser Abgesangs-Gestus, womöglich geschuldet sowohl dem Zentenar-Schatten als auch dem Interregnum. Es war die letzte Saison von Björn Gottstein, der nun für die Münchner Siemens-Stiftung arbeitet, während seine Nachfolgerin Lydia Rilling übernehmen muss.

Privatistische Züge

So war es wahrscheinlich kein Zufall, dass retrospektive, ja schier privatistische Züge deutlicher zutage traten. Zwar gab es kein regelrechtes Motto, wohl aber war das Vokale ein auffallender Faktor, der einen mehrfach an Helmut Lachenmanns Vorbehalt denken ließ, dass im Singen stets ein „tonaler Rest“ enthalten sei. Das ist nicht als dogmatischer Bannfluch gegen die Stimme schlechthin zu verstehen, wohl aber als Skepsis gegenüber tradierter espressivo-Ikonographie. In diesem Zusammenhang fiel denn auch auf, dass in nicht wenigen Stücken Kindheit beschworen wurde, sei es als Wiegenlied, sei es als Spielzeug-Welt. Ein Hauch von Regression schwang da bisweilen mit. Nicht aber im Heile-Welt-Touch: Zwei Stücke nämlich thematisierten Krankheit, die nicht im mindestens aufs nur Private zu reduzieren waren. Insofern war der Fächer doch weiter offen.

Licht aus dem Abgrund

Schon das Eröffnung-Konzert wirkte da polarisierend zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Nikolaus Brass’ „heliotrop“ für Bassklarinette und Vokal-Sextett imaginiert als „Wendung zum Licht“ Renaissance-a-cappella-Hymnik, lässt sogar an Gesualdo-Madrigale denken. Wenn dann perkussiv auf den Brustkorb geschlagen wird, dann ist das als Reminiszenz an Avantgarde-Techniken zwar auflockernd, trotzdem ein fast historisches Zitat. Den Brückenschlag zwischen eindringlicher Historie und bedrückendem heute versucht Evis Sammoutis‘ „In darkness“ als Hommage an John Dowland und als Memento an die sich häufenden Parkinson-Erkrankungen, sympathisch und austariert, gleichwohl recht temperiert. Schärfer reflektiert die Krankheit Iris ter Schiphorsts „Ordnung und Struktur“ als deren Abwesenheit mit „Sacre“-Hämmern und Hoquetus-Dissoziation.

Im ersten Orchesterkonzerte prallten Gegensätze aufeinander. Nicht zuletzt weil Clara Iannottas „where the dark earth bends“ ausfallen musste. Doch der Auftritt des „RAGE Thormbones“-Posaunen-Duos wurde zum Erweckungs-Erlebnis im Verzicht auf alle Bläser-Eloquenz und rigoros tieffrequente Schwärze-Erkundungen, auch mittels der Elektronik: opalisierende Düsternis wie auf Bildern von Soulages oder Rothko, Licht aus dem Abgrund. Geradezu buntscheckig wirkte Martin Schüttlers „I wd leave leaf & dance“ mit unzähligen mehr oder minder deutlichen Collage-Partikeln. Verglichen mit Heiner Goebbels’ „House of Call“ klang das um einiges beliebiger. Den Preis des SWR-Orchesters erhielt die polnische Komponistin und Sängerin Agata Zubel, die berückend sang, über oszillierenden Orchesterflächen und in der Hologramm-Projektion multipel attraktiv: eine gleichwohl überaus gefällige audio-visuelle Performance. Raffinierter ging Thomas Meadowcroft in „Forever Turnarounds“ vor: irritierend gleichförmige Akkord-Progressionen, die bandschleifenartige kryptotonale Vexierbilder evozierten.

Quasi therapeutisch

Alles andere als spielerisch operierte Bernhard Lang in „Cheap Opera #3 ’May’“, einer Hommage an die Schriftstellerin und Zeichnerin May Kooreman, an Parkinson erkrankt, deren Bilder wie Texte zitiert werden, Stimmen und Instrumente sparsam interagieren und sich zum unauflöslichen Netz verdichten, weder deskriptiv noch repetitiv, sich förmlich zum Bild eines musikalischen Exorzismus verdichten. Ästhetische und quasi therapeutische Dringlichkeit korrespondieren, machen das Private objektiv unabweisbar. Erlösung ist nicht in Sicht.

Um einiges harmloser gerieten Christian Winther Christensens „Children’s Songs“ als Versuch, Kinderlieder und Spielzeug in Erinnerung zu rufen, mehr oder minder mechanisch als heile Welt. Ums Erinnern geht es auch Rozalie Hirs in „artemis“: Vergangenheit als Fundus einer besseren Welt. Dass ein neunzigjähriger Altmeister noch einmal zu Donaueschingen-Ehren kommt, ist völlig richtig, und Alexander Goehrs „Double Chaconne with gaps“ ist die Aufführung allemal wert, obschon nicht eben aktuell. Entschieden gegenwärtiger waren da zwei gänzlich andere Werke. Iris ter Shiphorst resümiert in „Hyper-Dub“ die animierende Vielfalt von Berlin auf verschiedenen Ebenen, technischen wie sozialen. Vor allem aber hat sie sich mit dem Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow zusammengetan, der nicht nur ein Berlin-Gedicht in bester Brecht-Benn-Tonlage geschrieben hat, sondern auch als Performer einen neuen impact in die Avantgarde-Seriosität einbrachte. An dieser hielt zwar Mauro Lanza fest, der jedoch in „Gretchen and the fragment of machines“ die Widersprüche von Parzellierung, ja Atomisierung des Subjekts und massiv industriellem Prozess quasi auskomponiert hat. Gemütlich war das nicht mehr.

Erst recht nicht mehr der Auftritt des Warschauer Klavier-Schlagzeug-Ensembles „Kwadrofonik“, das in Malte Giesens „stock footage piece 2: type beats“ perkussive Raster, Hiphop-Aufsässigkeit zu schier Ravel’scher Scherzo-Luftigkeit trieb. Erheblich gewalttätiger präsentierten sich Artur Zagajewkis „Danses Polonaises“ im brutal hämmernden Dauer-Gestus mitsamt karatemäßigen Handkanten-Schlägen des grotesk hypermechanisch agierenden Demagogen. Als Text diente eine Blütenlese ultrareaktionärer Parolen des Staatsfernsehens: gespenstisch in der Vehemenz der Hetze bis an die Grenze der Ununterscheidbarkeit von polemischer Parodie und rasend chauvinistischer Mobilisierung: bestürzend so oder so.

Rabiatheit und ewiger Zwang

Krass auf unterschiedliche Art packten Hannah Kendalls „shouting forever in the receiver“ und Georg Friedrich Haas’ „weiter und weiter und weiter…“ Kendall greift das Leid der Plantagen-Sklaven auf, als Schrei in die ganze Welt. Zugleich lässt sie Klassik-Ohrwürmer anklingen: als europäischen Kultur-Firniss über der Brutalität – zitiert in Filmen wie „Django unchained“ oder „Twelve years a slave“. Auf Rabiatheit setzt auch Haas’ Werk für das Ensemble Modern: ein permanentes Accelerando, auch Bild ewigen Zwangs. Die konsequente Tempo-Steigerung hat ihre Vorbilder bei Schumann, Honneggers „Pacific 231“ und Ligeti. Haas hat hier weniger auf Mikrotonaliät gesetzt, mehr auf kompakte Kumulation, verzichtet aber auf die martialische Stretta, lässt vielmehr die Spieler sich verabschieden.

Zum Schluss noch einmal das Groß-Orchester: als letztlich eher uniforme „Parallaxe“-Studie von Lula Romero, dann als Kindheits-Traum der Wolken-Welt von Malika Kishino. Auch Arnulf Herrmanns „Kinderlied“ zitiert wenigstens auch die „Dämonen“, Gegenwelt zum Heimeligen, verwendet wieder eine Schallplatte, ohne bis zum Unheimlichen vorzudringen. Peter Ruzicka hat für Carolin Widmann ein Violinkonzert „Eingedunkelt“ geschrieben, als „vox humana“ der Saiten, ohne Zweifel an der Notwendigkeit solchen espressivo-Ausklangs zerstreuen zu können.

Der Jazz fand diesmal in der Christuskirche statt, ohne größeren Apparat, komponierte Elemente oder Elektronik, stattdessen, fast minimalistisch: Viola, Cello und Gitarre frei improvisierend, kaum mehr als gepflegt. Ganz ohne Radikalismen, Konflikte, ja Skandale sollte Donaueschingen eben doch nicht sein.

 

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