Monique Wagemakers stellt in Frage, ob es einen spezifisch weiblichen Blick auf Wagners „Ring des Nibelungen“ geben kann. Ihre Inszenierung der „Walküre“ ist Teil des neuen Zyklus, den das Theater Chemnitz mit vier Regisseurinnen innerhalb des Kalenderjahres 2018 zum Stadtjubiläum 875 Jahre herausbringt. Die musikalische Leitung der vier Premieren teilen sich der neue Generalmusikdirektor Guillermo García Calvo und der zur „Walküre“ antretende erste Kapellmeister Felix Bender. Musikalisch ist diese Produktion ein satter Wurf.
Aus Perspektive der Wotans-Sprösslinge und in deren Drama der manipulierten Kinder will Monique Wagemakers zeigen, dass „Die Walküre“ als ganz intime Familiengeschichte eine solitäre Position in Wagners Tetralogie hat. Immer wieder blicken von einer Projektion fragende Kindergesichter auf die Säulenhalle mit gotischen Rundbögen, in denen Claudia Weinhart das zeitlose Spiel verortet. Dort und vor einer abschüssigen Fläche kommen die Wälsungen-Zwillinge Sieglinde und Siegmund zusammen und spiegeln sich im dazu tretenden Kinderpaar, das sie einmal waren. Während der Schlussakkorde tritt schon der kleine Siegfried als Hoffnungsträger aus der Bühnentiefe ins meist türkis-tiefblaue Szenenbild. Auch die Kostüme von Erika Landertinger archaisieren dekorativ und schön, erzählen aber zu wenig. Enorm viel ist abstrahiert und den Phantasien der mehr oder weniger werkkundigen Zuschauer überlassen: Kein Schwert Nothung, keine Esche, kein Speer mit heiligen Runen. Sogar die leidenschaftliche inzestuöse Paarung Siegmunds und Sieglindes, hier beschworen als Akt der Selbstfindung, pulsiert kaum bis gar nicht.
Und die Männer: Der als Hunding wie ein Halbbruder Conans des Barbaren mit satten Tönen durch den ersten Akt grobianisierende Magnus Piontek und der mehrfach die letzten vokalen Reserven ins Rennen wuchtende Zoltán Nyári als Siegmund schauen aus wie abgerissene Nerds. In der ersten Stunde dieser „Walküre“ sind Männer also Schweine.
Das ändert sich aber im weiteren Verlauf. Denn Monique Wagemakers weiß viel von heterosexuellen Konfliktmustern und zeigt das auch zweimal differenziert: Zuerst, wenn das hier keineswegs ganz von Tisch und Bett getrennte Lichtalben-Paar Fricka und Wotan aufeinandertrifft. Die sängerisch und szenisch hochlohende Fricka (Monika Bohinec mit bravourösem Temperamentsfeuerwerk) schießt kräftig über das Ziel hinaus und attackiert, gewisslich gegen ihr besseres Wissen, den Göttergatten Wotan mit irreparablen Konsequenzen. Das knallt wie eine gute Strindberg-Aufführung. Später, im Mittelteil von Wotans Abschied, sitzen „Walvater“ und sein „kühnes herrliches Kind“ Rücken an Rücken, Arm an Arm. Dieser rührende, emotionale Moment stimmt nach langem Leerlauf versöhnlich, auch weil Dara Hobbs eine darstellerisch intensive und risikobereite Brünnhilde ist. Ihre Walküre schmeichelt sich nicht mit glatten Tönen ein, sondern gewinnt durch Charakter und faszinierende Kraft. Christiane Kohls Sieglinde bleibt dagegen bis zum Schluss im allzu geradlinig lyrischen Madonnenschein. Die von Ruth Staffa (Ortlinde) musikalisch kurzfristig gerettete Walküre-Truppe zeigt mehr vokale Expression denn als Frauen-Patrouille in anmutigen Gruppierungen.
Auf bewundernswerte Weise realisiert
Magnet und Zentrum dieser Aufführung ist der Grieche Aris Argiris, der möglicherweise überragende Wotan seiner Generation: Szenenkonform darf er erst mit vokalem Testosteron prahlen. Darauf legt er eine Wotanserzählung hin, bei der nicht nur Brünnhilde Hören und Sehen vergeht. Dem Kapital im zweiten Akt folgen auf dem Walkürenfelsen die von Aris Argiris in purem Gold ausgezahlten Zinsen – mit schier unerschöpflichem Atem und absolut rollenkonformer musikdramatischer Textur.
Die Solisten müssten sich nicht nur vor dem Publikum, sondern erst recht vor der Robert-Schumann-Philharmonie verbeugen, die nach einem anstrengenden Wagner-Wochenende mit „Parsifal“, „Rheingold“ und „Tannhäuser“ in noch immer sehr guter Tagesform antritt. Felix Bender hat detailliert vorbereitet und geprobt: Da klingt jedes Sforzato, jedes Crescendo genau und pointiert. Das Blech singt immer und schmettert nur an den bei Wagner vorgesehenen Momenten. Bender bleibt dabei im stimmigen Fluss, lässt sich nie vom Sog des Augenblicks in anbiedernde Beschleunigung treiben und widersteht dort allen Versuchungen zum veräußerlichten Fortissimo, wo Wagner eh schon bis zum Bersten stark ist. Nur dann attackiert er die Sänger aus dem Graben, wenn man ihn dazu nötigt wie zu den „Wälse“-Rufen. Die Erregungskurve dieser Partitur mit ihren sich verdichtenden Emotionen wird an diesem Abend auf bewundernswerte Weise realisiert. Die Anwesenden der leider nicht ausverkauften Vorstellung erkannten das und dankten mit einem beseligtem Applaus-Crescendo.
- Premiere: Sa 24.03.2018 – Besuchte Vorstellung: Ostermontag, 02.04./16:00 - Wieder am So 22.04./15:00 Uhr - Di 01.05./16:00 Uhr – So 27.05./16:00 Uhr – www.theater-chemnitz.de