„Der Sommer in Stuttgart“, entstanden nach dem ISCM World New Music Festival 2006, hat sich längst zum informellen Saison-Ausklang der Stadt am Nesenbach entwickelt. Ab 2020 wird künftig im biennalen Rhythmus das Festival „Die irritierte Stadt“, mit Tanz und „im Austausch mit interessierten Bürgern/-innen der Stuttgarter Stadtgesellschaft“ das Festival neuer Musik ersetzen. Dietrich Heißenbüttel berichtete für die nmz vom letzten Sommer in Stuttgart.
Ein Schwerpunkt galt diesmal vier Musiktheater-Miniaturen. Oben im intimen Probenraum des Veranstalters steht rechts eine Videoleinwand, links sitzen drei Musiker des Ensembles Phace aus Wien, dazwischen vier Holzbänke: schlichte lange Kästen, von Stück zu Stück neu kombiniert. Das Publikum auf beiden Seiten, Blickrichtung nicht eindeutig definiert, füllt auch am zweiten Tag den Raum. Vier Komponistinnen und Komponisten, alle geboren in den achtziger Jahren, reagieren, so das Programmheft, „auf Themen, die sie für die aktuelle Situation unserer Gesellschaft als relevant erachten“. Und auf Lügen, die wir uns über uns selbst erzählen: „Lies of Civilization“.
„Refresh“, beginnt „The Single Day“ von Yiran Zhao: „Morning, just getting started/ going through routines/ systems checks./ Back and forth.“ Wir sind eigentlich Automaten. Programmierte Abläufe, ab und zu Restart und Reset. Truike van der Poel flüstert, spricht allenfalls. Geloopte schwarzweiße Videobilder zeigen Aufzugfahrten und 0-1-Zahlenkolonnen. Damit kontrastiert die emotionale Ebene: „Rock me in your arms/ Sing me to sleep/ I love you“, vorprogrammiert vielleicht auch das. „Refresh“ heißt es zum Schluss. Das tut not.
Drei Sänger im Blaumann bauen einen Arbeitstisch auf, fahren ein Gerätewägelchen heran, dozieren singend: „The universe, in principle, includes everything that is there.“ Sie stehen da wie Ärzte an einem OP-Tisch oder Kunstprofessoren bei der Korrektur. „The frame helps to neutralize the whole area of the artwork“. Der Kamerablick von oben auf den Tisch illustriert, auf die Videoleinwand projiziert, ein wenig offenkundig das „Framing“. Malte Giesens Titel „white border“ bezieht sich auf einen Rahmeneffekt bei Instagram.
„Part of the Job“ handelt von einer blonden, großgewachsenen europäischen Frau, die es nach Japan verschlägt. Für Øyvind Mæland der Anlass, um über eine frenetische Arbeits- und Konsumwelt und Kommunikationsmangel zu reflektieren. Ein gewichtiges Thema, gewiss, doch es bedarf einiger Verrenkungen, um sich in die spezielle Perspektive des norwegischen Komponisten hineinzudenken. Natalia Dominguez Rangel thematisiert in „The Invisible“ Machtstrukturen. Das Zentrum bleibt leer, unsichtbar – von den Superreichen zirkulieren keine Bilder, die Masse tut, was von ihr verlangt wird: Theorie-Karaoke nach Michel Foucault, musikalisch illustriert durch den Kontrast allgegenwärtigen Geraschels mit einem plötzlichen Fortissimo-Wirbel der großen Trommel. Wäre nicht die Klarinette, die einen an die Anwesenheit der drei Instrumentalmusiker erinnert, könnte man das perfekte Zusammenspiel von Sängern und Instrumenten, Bühnenbewegungen und Videobildern leicht übersehen.
Zweiter Schwerpunkt war der 70. Geburtstag von Gerhard Stäbler. Der Komponist, auch selbst auf der Bühne, begann lautlos vor dem Publikum Grimassen zu scheiden. Sodann lud Kunshu Shim das Publikum ein, auf postkartengroßen Notenblättern mitzukomponieren. Während er im Hintergrund die Fragmente zusammenfügte, tröpfelten vorn drei Schlagzeuger Flüssigkeiten in fragile Gläser und rieben Flaschen aneinander, bis es schließlich zu Scherben kam. In Stäblers „Hart auf hart“ brauchte der Dirigent Léo Margue scheinbar ein Megaphon, um sich gegen die zwei Ensembles durchzusetzen. Stotternde Aufwärtsbewegungen und fallende Glissandi, die von den Kontrabasssaiten nahtlos in Elektronik übergingen, fungierten in Jean-Luc Hervés „Germination“ als Metaphern des Wachstums, das sich in der Pause zwischen kleinen Kresse-Töpfchen im Gang fortsetzte.
Im letzten Teil rieb das Duo Conradi Gehlen Gitarren aneinander, bevor Stäbler und Shim die Publikumskomposition zur Aufführung brachten. Naturgemäß war von harmonischen Akkorden bis hin zu abfälligen Kommentaren so manches zusammengekommen, was Shim furios am Klavier und Stäbler vorn immer grotesker performend zuletzt sinnbildlich in Papierrollen einwickelten. Stäbler ist immer für Überraschungen gut: Das abschließende „Nachtstück“ hatte mit zwei heftigen Einsätzen kaum begonnen, da war es auch schon wieder vorbei.