Nicht nur der legendäre Probenraum „Lichtburg“ der bis letztes Jahr von Querelen geschüttelten Pina Bausch Company ist gerettet. Unter der neuen künstlerischen Intendantin Bettina Wagner-Bergelt werden auch die Tanzgeschichte machenden Werke mit größtmöglicher Ernsthaftigkeit einstudiert – jetzt „Blaubart. Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper „Herzog Blaubarts Burg“ - und unser Kritiker Wolf-Dieter Peter prüfte, ob sich die herausfordernde Verstörung von 1977 wieder einstellen würde.
Da singen Dietrich Fischer-Dieskau und Herta Töpper, 1958 dirigiert von Ferenc Fricsay – Töne aus vergangenen Zeiten… wie passend, dass braunes Herbstlaub den gesamten Boden von Rolf Borziks altweißem Bühnenraum bedeckt. Als weiches Licht den Raum erhellt, liegt vorne eine Frau am Boden, die Unterarme angewinkelt nach oben. Hinten sitzt ein Mann in weißem Hemd unter dem dunklen Mantel vor einem Rollgestell mit großem altem Spulen-Tonbandgerät und einer rundum tönenden Lautsprecherbox. Er drückt die laut knackende Play-Taste; nach kurzem Rauschen erklingen die eröffnenden Akkorde von Bartóks Operneinakter; der Mann stürzt sich in Embryo-Haltung in die Arme der Frau, um nach Blaubarts „Wir sind am Ziele!“ hektisch ans Gerät zurückzustürzen, knallend die Stop-Taste zu drücken, zurück zu spulen und wieder zu beginnen. All das wiederholt sich mehrfach, beginnt manisch und quälend zu wirken.
Damit sind die Eckpunkte von Pina Bauschs Blick und Aussage gesetzt: vor über vier Jahrzehnten wagte sie, Béla Bartóks tief symbolistisches Werk rigoros zu zerteilen, um speziell in zahlreichen Wiederholungen von Musikfetzen nahezu alle Facetten der Mann-Frau-Beziehung körpersprachlich zu sezieren und offen zu legen. Zu Blaubarts „Offen steht dir noch die Türe“ kommen wie in einem traurigen Opferlamm-Zug neun Frauen und elf Männer in den Raum. Judith postiert die Frauen vereinzelt, diese lassen ihre abgenutzt wirkenden Roben wie in einer Häutung fallen und stehen in dünnen, gebrochen farbigen Tanzkleidchen im Raum. Wenig später lassen sie die Köpfe hängen – und ihre meist hüftlangen Haarmähnen werden zunächst zu gesichtsverbergenden Schleiern. Immer wieder formen die Frauen diese Pracht mit großen Schwenkbewegungen zu lockend schönen „Pfauenrädern“, später aber peitschen sie damit die Männer. Die tragen weißes Hemd und schwarzen Anzug, doch schon zur zweiten, der „Waffenkammer“-Tür entblößen sie sich bis auf farbige Samtvelour-Badehosen mit Glanzeffekt – und steigern den grässlich lächerlichen Effekt durch „Ha!“-Schreie, Macho-Gehabe und Body-Builder-Posen. Dann jagen sie auch, ziellos wirkend, umher und stürzen sich von den Fensterborden mit Kissen auf die Frauen. Dem steht weibliche Bewunderung, aber auch ihre Flucht die Wände hoch, Anrennen gegen die Mauern und immer wieder Zusammenbruch oder hilfloses Beieinanderstehen gegenüber. Gelegentlich füllt Seufzen, dann auch Weinen, kontrastiert von Lachen und mädchenhaftem Gegackere die Stille. Nur Judith in ihrem rosenholzfarbenem Kleid darf „Weil ich dich liebe“ laut aussprechen.
Poesie der Verzweiflung
An sonst keiner Stelle wird der Originaltext darstellerisch verdoppelt oder kommentiert. Pina Bausch entfaltet vielmehr einen stupenden Kosmos an Tändel-, Ringens- und Leidensarten der Mann-Frau-Begegnung vor dem „Schmuck-Reichtum“, „Zaubergarten“, der „Landschaftspracht“ oder dem „Tränensee“ in Béla Balázs' tiefgründigem Text. Pina wagt die Offenlegung der körperlichen Liebe vom zärtlichen Spiel bis hin zum kämpferisch sexuellen Stellungskrieg. Doch ganz sensibel hat sie den qualvoll dunklen Tonfall von Bartóks singulärer Musik erhört und in eine tanztheatralische Poesie der Verzweiflung überführt – unprätentiös kongenial. Blaubarts wie vielfach unsere Suche nach „Ewigkeit“, die die Liebe dann auch als „kleinen Tod“ erlebt, ist im hemmungslos wirkenden Körpereinsatz aller offenbar – Tsai-Chin Yus Judith und Oleg Stepanovs Blaubart heben sich da nur mehrfach kurz heraus – letztlich gleichen sich alle. Die Handlung wird zur Vivisektion zwischenmenschlicher Beziehungen in ihrer vermeintlichen Singularität, kurzen Verklärung und doch auch realen Austauschbarkeit. Noch erkennbar quälender wird die Lebenseinsicht: dass vieles, bis hin zur Liebe aus Repetition, aus der Wiederholung des Gleichen besteht – so wie viele Musikstellen durch Zurückspulen bis zur Belastungsgrenze wiederholt werden.
Pinas eigenes Statement zur Problematik: Blaubarts finaler Versuch, Judith in die Roben aller Frauen zu zwängen, endet mit ihrem Tod, im qualvollen Robben des Mannes auf dem Rücken, mit der toten Geliebten auf sich liegend, mit dem Knirschen des toten Laubes und den letzten verlöschenden Klängen vom Tonband… Das alles wirkt zwingend und fesselnd – und was 1977 verstörend innovativ war, prompt Ablehnung provozierte, scheint wie aus dem Jahr 2020 zu stammen - ein in Tanztheaterkunst verdichtet sprechender, von emotional suggestiver Musik durchzogener, mitten in unser Sein treffender Erkenntnisstrahl - stupend und frappierend. Ovationen wagnerianischen Ausmaßes. Ach, Pina!