Eine Großtat des Intendanten Jürgen Flimm an seiner Staatsoper war die Inszenierung von Rimsky-Korsakows „Zarenbraut“ durch Dmitri Tcherniakov, die in einem TV-Studio spielte. Dies das mag Flimm auf die Idee gebracht haben, seinerseits in St. Petersburg die Handlung der „Manon Lescaut“ ebenfalls in ein Studio zu verlegen. Aber was in St. Petersburg offenbar Gefallen gefunden hat, kam in Berlin weniger gut an.
Abbé Prévosts Roman über die junge, den Luxus liebende Manon in ihrer unglücklichen Beziehung zu dem mittellosen Priesterstudenten Des Grieux hat wiederholt als Opernstoff gedient, von Daniel Francoise Esprit Aubers „Manon“ über Jules Massenets „Manon“ und seine Fortsetzungsoper „Le Portrait de Manon“ bis hin zu Hans Werner Henzes „Boulevard Solitude“. Für Giacomo Puccini bedeutete sein drittes Bühnenwerk „Manon Lescaut“ den Durchbruch als Opernkomponist.
An seinem zähen Ringen um ein seinen individuellen Vorstellungen genügendes, sich handlungstechnisch von Aubers und Massenets Versionen deutlich absetzendes Libretto vereinigte als Urheber die Librettisten Marco Praga, Domenico Oliva, Giuseppe Giacosa, Luigi Illica, Ruggero Leoncavallo, Ricordi und Giuseppe Adami, den Verleger Giulio Ricordi sowie den Komponisten selbst.
Da die für „Manon Lescaut“ episodenhaft aus dem Roman ausgewählte Folge von Episoden kein kontinuierliches Handlungsbild ermöglicht, fügte der Komponist zwischen zweitem und drittem Akt ein Intermezzo sinfonico ein, das „Die Gefangenschaft – Die Reise nach le Havre“ programmatisch schildert.
Im Hollywood-Filmstudio
Die im 18. Jahrhundert in Frankreich und Nordamerika spielende Handlung verlegte Jürgen Flimm, gemeinsam mit dem Filmer Robert Pflanz, in die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, in ein Hollywood-Filmstudio.
So ist im ersten Akt anstelle des bewegten Wirthauslebens an der Postkutschenstation ein von Ursula Kudrna bunt bebildertes Maskentreiben im frühen Filmstudio „Sunset Motion Pictures“ zu erleben, vom Regisseur an einer langen Tafel arrangiert, offenbar für jedermann zugänglich, auch für Probeaufnahmen in einem stehenden Oldtimer vor bewegtem Straßenfilm. Zum Casting trifft dort auch Manon mit ihrem Bruder Lescaut (Roman Trekel) ein, begleitet vom königlichen Steuerpächter Geronte de Ravoir (Franz Hawlata), der hier als Filmproduzent fungiert, sich sexuell für Manon interessiert und sie daher dem Bruder abkauft. Manon aber erlebt die Liebe auf den ersten Blick mit dem jungen Des Grieux, und sie flieht mit ihm in einem Filmauto. Um diese Reise zeigen zu können, wird in dieser Inszenierung Puccinis Streichquartett Crisantemi in orchestrierter Version als Zwischenspiel vor dem zweiten Akt eingeflochten. Das ist weniger willkürlich, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn das drei Jahre vor der Vollendung der Oper zum Gedenken an Herzog Amadeo von Savoyen als Trauermusik komponierte Andante mesto wird von Puccini selbst in der Partitur seines Dramma lirico zitiert, insbesondere beim Sterben Manons im 4. Akt.
Zuvor bereits waren von Pflanz auf einem großen Screen des Studios klassische Filmkuss-Szenen mit dem filmisch realisierten Wunsch eines adäquaten Liebeskusses zwischen Manon und Des Grieux collagiert worden. Die Projektion dieser Sequenzen erfolgte in St. Petersburg erst im zweiten Akt, durch ein Spiegelgeviert als luxuriöse Studiodekoration – doch erwiesen sich die Berliner Beamer hierfür als zu schwach. Anstelle der von einem Ballettmeister der Manon mit ihrem reichen Galan Geronte de Ravoir einstudierten Tänze dominiert bei den als Handlung in die Handlung verlagerten Rokoko-Momenten ein von Gail Skrela choreografiertes Tänzerinnen-Ensemble in silbernen Glocken-Röcken. Manon hortet ihre Pretiosen nicht in ihrem Beaudoire, sondern in den Schubladen des kollektiven Schminktisches im Hollywood-Studio.
Eine deutliche Neuerung gegenüber der St. Petersburger Originalversion ist in Berlin ein eigenes Bühnenbild für Manons Wiederbegegnung mit Des Grieux: die Bar des Studios mit Gewinnspielautomat. Obgleich Manon ihre Perlen längst eingepackt hat, wartet sie mit der Flucht unverständlich lange – so lange, bis ihr reicher Lover und Produzent mitsamt Polizisten erscheint und sie festnehmen lässt.
Spätestens nach der Pause hat sich das Sudioambiente verbraucht, aber als Pendant zum ersten Teil des Abends erklingt Puccinis Intermezzo sinfonico, mit welchem der Komponist zur Handlung des dritten Aktes überleiten will, hier erst zwischen dem 3. und 4. Akt. Pflanz bebildert es mit Filmschnitten von der amerikanischen Börse, endlosen Lochstreifenbändern und noch längeren Menschenschlangen, die im Zuge der Depression um Essen anstehen. Die amerikanische Wüste des 18. Jahrhunderts, durch welche Manon und Des Grieux nach einem Verbrechen fliehen, wird hier zur sozialen Wüste. Des Grieux zieht die Erschöpfte auf einem Suhl hinter sich her und legt sie auf ein zugedecktes Schrottauto.
Aus St. Petersburg mitgebracht hat Jürgen Flimm außer seinen Regieassistenten und dem Dirigenten nur die Sängerin der Titelpartie, Anna Nechaeva. Sie sieht blendend gut aus, singt mit gesund gewachsenem, kräftigem Sopran, aber doch auf die Dauer zu eindimensional. Das Hin- und Hergerissensein zwischen Leidenschaft und Liebe vermag die russische Sopranistin bei ihrem Deutschland-Debüt so wenig glaubhaft zu machen, wie ihr Tenor-Partner Riccardo Massi bei seinem Rollendebüt die Psyche des Des Grieux. Mit überlang ausgehaltenen Spitzentönen beweist er seine stimmlichen Reserven, intoniert aber doch zu unkoordiniert. Der ehemalige Stuntman ist eine imposante Erscheinung, allerdings so groß gewachsen, dass er in das in der Originalinszenierung für den Fluchtfilm genutzte Cabrio nicht hineinpasst, so dass stattdessen das Fahrzeug aus der Casting-Szene verwendet werden musste – was zusätzlich zur Verunklarung und einer Beliebigkeit der Erzählweise beiträgt.
Des Grieux’ misslungener Befreiungsversuch der Geliebten bleibt in dieser Produktion ebenso wenig deutlich wie die Verschiffung der Pariser Prostituierten oder Manons Ende in New Orleans.
Zu den Fragwürdigkeiten der Lesart zählt die Rolle von Manons Bruder, der hier offenbar selbst ein wohlhabender Hobbyfilmer ist (leider bleibt Roman Trekel dabei recht farblos). Ein Injoke nimmt Bezug auf die ehemalige Sucht des zumeist auch auf der Szene (so als Hans Sachs in Bayreuth) permanent kettenrauchenden Franz Hawlata: hier gelingt es Lescaut nicht, dessen Zigarre anzuzünden.
Wenig Flexibel im Tempo exerziert der Petersburger Musikchef Mikhail Tatarnikov mit der Staatskapelle Berlin die vielfach Wagner verwandte, 1893 in Turin uraufgeführte Partitur Puccinis. Mit symphonischer Verve und permanenter Lautstärke motiviert er die Solisten, wie in alten Operntagen, nahe an der Rampe zu singen oder zu forcieren – wenn nicht (wie am Ende des 3. Aktes) Mikrofonverstärkung zum Einsatz kommt. Vielleicht aber sollte Tatarnikovs gleichsam automatisches Musikzieren den in George Tsypins Bühnenbildern prominent platzierten Automaten (für Musik und Getränke) entsprechen.
So bleibt der größte Reiz in Jürgen Flimms Berliner Adaption seiner St. Petersburger Inszenierung das Ratespiel um die Herkunft der hier zitierten berühmten Stummfilme, der Sterbe- und Kussszenen von Nikolai Tscherkassow (als Zar Ivan Grosny) bis Humphrey Bogart, die Robert Pflanz mit seinen neu gedrehten, auf alt getrimmten Szenen gemixt hat.
Am Ende des Abends zollte das Premierenpublikum nur müden, widerspruchslosen Applaus, dessen Kürze die geplanten Applaus-Vorhänge, das Durchtreten der beteiligten Künstler, ausschloss.
- Weitere Aufführungen: 8., 11., 16., 19. und 22. Dezember 2016.