Kurzweilig und turbulent: Das DNT schickt im Sommertheater am e-werk sein Publikum mit Mozarts „Gärtnerin aus Liebe“ in den siebten Datingshow-Himmel. Wunderbar!
Lispeln Sie doch mal das prickelnde Wort „Massage-Date“. Denn die Moderatorin (Birthe Wolter) lispelt auch, zieht sich alle fünf Minuten um und sieht dabei immer so fabelhaft aus wie die Turbo-Extra-Granaten im Inselcamp. Am Ende macht sie sogar, was im TV als so unschicklich gilt wie der Psychiatrie: Techtels von Kandidat*in bzw. Patient*in mit Angehörigen des Therapie- oder Sendeteams sind tabu. Eigentlich gilt das auch für die zeitgemäß mit Publikumsabstimmungen und der FB-Site gaertnerin2021 beworbene Datingshow „Love in Paradise“. Aber wer kann bei so viel „echten Gefühlen“ Nein sagen?
Bereits Goethe war in seinen Mozart-Bearbeitungen für das Hoftheater Weimar wenig zimperlich. Doch was das aus Corona-Starre erwachende DNT vor der Halbrund-Tribüne an der Backstein-Mauer des e-werk aufführt, hat sogar noch weitaus mehr Rasse und Klasse. Mehrere Tonnen Sand ließ Susanne Gschwendner für das medial-physische Inselparadies ankarren. Clara Luisa Hertel brachte eine ordentliche Sammlung von Herren-Bermudas zusammen. Bis zum Schlussapplaus, bei dem sich das wunderbare Ensemble des DNT mit Hoodies im Rainbow-Colours-Spektrum verbeugt, ist das Polen wahrer, reflektierter, narzisstischer und exhibitionistischer Selbstoffenbarungen offen. Das Kamerateam verfolgt die von ihren superpeinlichen Vergangenheiten eingeholten Singles bis unter die Dusche. Dabei lassen sich diese mit voller Schlagseite in Flachball-Deutsch über Fuck Boys und echte Gefühle aus. Trotz des dezent kühlen Sommerabends hatten alle ganz viel Lieb’ in Leibe, auch das Publikum zu den Darstellern und der aus dem Innern der Location angemessen herb tönenden Staatskapelle Weimar.
Verena Stoiber war beflügelt von komödiantischen Blitzketten und fing das von ihr mit Gespür für persönliche Eigenheiten motivierte Ensemble auf. Zum Glück sind Opernsänger (in der Regel) keine Kandidaten-Routiniers. So zeigen kleine Schlacksigkeiten auch latentes Misstrauen gegenüber dem digitalen Emotionsspeech, gewinnt die Action sensitiven Tiefgang. Stoiber und der Mann am Dirigentenpult, Andreas Spering, ziehen an einem Strang. Sie beweisen: Im 21. Jahrhundert sind gerade die früher als irreal betrachteten Mozartschen Verwechslungsmomente aus „Così fan tutte“, „Don Giovanni“ und der hier im italienischen Original mit deutschen Dialog-Innovationen gegebenen „La finta giardiniera“ nicht mehr unlogisch, sondern höchstwahrscheinlich. Je durchgeknallter also, desto lebens- und gefühlsechter!
Endlich herrscht Klartext über das Desaster der Vorgeschichte zwischen der sonst eher larmoyanten Violanta und ihres Beaus Belfiore. Der hatte sie nämlich nur deshalb mit dem Messer verletzt, weil Violanta vor beider Trauung an der Weimarer Herderkirche noch etwas sexuellen Druck abbauen musste – im weißen Brautkleid, allerdings NICHT mit dem etwas zu pünktlich vorfahrendem Bräutigam. Der Kamera entgeht nichts. Das Tatmesser bleib am Seeufer liegen – Violanta bohrt es später in die Plastikhaut des Einh(p)orn-Schwimmreifens am Studiostrand. Die Pathostransfers der in jeder Hinsicht anspruchsvollen Arminda und der chevaleresken Kastratenpartie Ramiro werden zu zeitversetzter und vom Publikum in den siebten Quotenhimmel gejubelter Frauenliebe. Opera buffa also nicht als grober, sondern politisch korrekter Spaß.
Spering kennt Mozart und so offenbart das auf zwei Stunden gekürzte Komödien-Happening sogar geniale Seiten. Die Sänger sind in bester amouröser Sport-, Spurt- und Spielkondition. Zum Glück dieser oft unterschätzten Oper, die hier alles andere ein Museumsstück der historisch perfekten Aufführungsillusion wurde: Situation und Authentizität zählen mehr als Seelentöne. Diese kommen trotzdem wie von selbst: In Ramiros Klagen, Violantas Auftrittsarie, dem oboendurchfluteten zweiten Finale und dem genialen Versöhnungsduett. Alles klingt schroff, herrlich szenensynchron und immer so, dass man die „Love in Paradise“-Biester langfristig ins Herz schließt: Heike Porstein in der Titelpartie mit Bodenständigkeit und Belcantoschimmer, Jörn Eichler als sich liebenswert vom Grobian zum weichen Kern durchsingender Podesta, Sayaka Shigeshima als Ramiro im Vollstart zum Edelmezzo, Camila Ribero-Souza zwischen Tosca und Aida auf bestens anschlagender Mozart-Kur und Taejun Sun als Tenorino, der in schönen Tönen immer doppelbödig bleibt. Ylva Stenberg nimmt es in der früheren Dienerinnen-Partie mit jeder Damenschaft auf und singt mindestens auf Höhe ihrer Massagefähigkeiten. Außerdem wusste Stoiber genau, warum sie Alik Abdukayumov als sonst zweitrangigen Nardo kräftig aufwertete, nicht nur als König der Malibu-Cocktails.
Sie alle leisten front- und backstage ein gutes Werk. Für viele im Publikum wurde Mozarts „Verstellte Gärtnerin“ (so der Titel der Augsburger Singspielfassung) durchaus Weimar-spezifisch zur Bildungsveranstaltung: Die meisten Opernbesucher wissen kaum, was ihnen auf digitalen Kanälen in Sachen „Love in Paradise“ alles entgeht. Oder geben das zumindest vor. Am Ende des Abends wissen alle alles über polyamouröses Sandwich-Kuscheln und Sandschlachten der Superbräute. Endlich wieder echtes Theater!
Nochmals am Mi 21.07.2021 // 19.30 Uhr – Fr 23.07.2021 // 19.30 Uhr – Sa 24.07.2021 // 19.30 Uhr – So 25.07.2021 // 19.30 Uhr – Di 27.07.2021 // 19.30 Uhr – Mi 28.07.2021 // 19.30 Uhr – Fr 30.07.2021 // 19.30 Uhr – Sa 31.07.2021 // 19.30 Uhr – So 01.08.2021 // 19.30 Uhr (zum letzten Mal)
Mozart: Die Gärtnerin aus Liebe – Open Air Sommer im e-werk weimar. Andreas Spering (Musikalische Leitung), Verena Stoiber (Regie), Susanne Gschwender (Bühne), Clara-Luisa Hertel (Kostüme), Jonas Dahl (Video), Matthias Piro (Produktionsassistent), Kate Ledina (Live-Kamera / Videoassistenz), Lisa Astrid Mayer (Dramaturgie) – Jörn Eichler (Podestà), Heike Porstein (Sandrina-Violante), Taejun Sun (Contino Belfiore), Camila Ribero-Souza (Arminda), Sayaka Shigeshima (Ramiro), Ylva Sofia Stenberg (Serpetta), Alik Abdukayumov (Nardo), Birthe Wolter (Moderatorin)