Man könnte ihm allzu große Neigung zum Populären vorwerfen, zu wenig Avantgardismus oder thematische Stringenz seiner Programme. Doch was die Ära Nils Landgren beim Jazzfest Berlin in den Jahren 2001 und von 2008 bis 2011 auszeichnete, war das riesige Spektrum, das der schwedische Meisterposaunist einem begeisterten Publikum bieten konnte, eine Vielfalt, in der für jeden sowohl Ansprechendes als auch Anspruchsvolles zu finden war.
Beliebig war das schon deshalb nicht, weil Landgrens untrügliches Gespür für Qualität stets für starke Eindrücke und charakteristische Aussagen einstand. „Mr. Redhorn“, wie er wegen seines „Markenzeichens“, der metallic-roten Posaune, genannt wird, konnte immer wieder aus dem Vollen der zahllosen Kontakte seiner eigenen Musikertätigkeit schöpfen, schaffte es immer wieder, die Kollegen auf dem Höchststand ihrer Kreativität zu erwischen. Ein gelungener Dialog zwischen gestandenen Jazzgrößen und Newcomern, von Traditionsverbundenheit und Experimentierfreude überwand alle Berührungsängste, erlaubte Grenzüberschreitungen in alle nur denkbaren Richtungen. Und die führten in diesem Jahr häufig in „E“-Musik-Bereiche.
Am auffälligsten war das vielleicht beim „Andromeda Mega Express Orchestra“, einem mit Harfe, Fagott und Streichern neben der jazzüblichen Besetzung „klassisch“ eingefärbten 17-köpfigen Ensemble, das alle herkömmlichen Kategorien hinter sich lässt. Seine Musik passt in keine Schublade, changiert zwischen Jazz und Neuer Musik mit kräftigen Griffen in die traditionelle Zitatenkiste, voll verblüffender, verrückter Wendungen und von erfrischender Ironie. Pfiffig und intelligent auch die Kompositionen des Trios Michael Wollny, Klavier, Eva Kruse, Bass, und Eric Schaefer, drums. „Metall“ heißt etwa ein Stück von Eva Kruse, in dem wirklich nur die metallenen Bestandteile der Instrumente in Aktion treten, dabei äußerst reduziert, mit harten geräuschhaften Sounds, die auch der E-Avantgarde alle Ehre machen würden. Wollny baut atonale Motivfetzen so beziehungsreich zusammen, dass daraus die eingängigsten Riffs entstehen. Modern, jung und beweglich – das Trio wurde vom Publikum geliebt und gehörte zu den Glanzpunkten des Festivals.
Wenn man sich der Klassik so nähert, wie die dänische Sängerin Cæcilie Norby, dann stellen sich allerdings eher abgestandene Effekte ein. Norby, deren Mutter Opernsängerin war, will damit ihre Wurzeln aufspüren, doch wenn man sich auf die populären Klassik-Schmonzetten („Clair de Lune“, „Sheherazade“) beschränkt, kann kaum mehr als Schmuse-Jazz oder weichgespülte Klassik dabei herauskommen, zumal über die Themen kaum improvisiert wurde. Hier gab Nils Landgren eine seiner „Abschiedsvorstellungen“ – kaum steuerte er dem Norby Quartett seinen differenzierten Figurenreichtum bei, groovte und swingte es wieder.
Klaviervirtuosität lag beim Jazzfest quasi in der Luft: Programmschwerpunkt war die polnische Jazzszene, und deren prägende Gestalt ist auch nach seinem tragischen Unfalltod vor 45 Jahren immer noch Krzysztof Komeda, Pianist und Komponist bedeutender Filmmusiken, vor allem zu Polanski-Filmen („Rosemary’s Baby“, „Tanz der Vampire“). Im Portraitfilm „Komeda – A Soundtrack for a Life“ von Claudia Buthenhoff-Duffy konnte man sich davon überzeugen, wieviel Chopin immer noch in seinen Themen und seinem Klavierstil herumspukt – auch wenn es sich bei seiner Musik natürlich um genuinen Jazz handelt. Als legitimer Komeda-Nachfolger wird in Polen der 40-jährige Leszek Możdżer gehandelt – sein Album „Komeda“ erlangte bereits Kult-Status. Sein Vorbild übertrifft er noch durch eine unglaubliche manuelle Beweglichkeit und Leichtigkeit – insgesamt ist sein Stil fließender, weniger kompakt und konturenscharf. „Ich will die Hämmer zum Fliegen bringen“, sagt Możdżer dazu. In seinem Piano-Recital faszinierte der Einfallsreichtum seiner Komeda-Improvisationen ebenso wie seine Anschlagskultur, der man die klassische Ausbildung anmerkt – und doch ermüdeten seine ätherischen Glockentöne auf die Dauer ein wenig – Anzeichen eines drohenden Manierismus?
Mit Tómasz Stańko trat einer der „großen Alten“ auf, die noch mit Komeda selbst zusammengespielt hatten. Nach wie vor bestach sein rauher, doch gesanglicher Trompetenton. Vielleicht ist tatsächlich ein Hang zum Melodiösen und Filigranen ein Kennzeichen des polnischen Jazz? Als Geiger steuerte der junge Adam Baldych mit seinem Quintett eine ganz besondere Note bei, heizte dem Publikum im kleinen Club „Quasimodo“ mit unerschöpflicher, kraftvoller Vitalität ein und konnte sich ebenso cooler Melodik zuwenden. Bei Ola Tomaszewska – als „polnische Maria Schneider der jungen Generation“ angekündigt – ist sie bizarr gezackt, doch ihr Nonett – ein als Experiment gedachter ad-hoc-Zusammenschluss polnischer und deutscher Musiker – spielte sich noch nicht so recht frei.
Klassische Verwurzelungen, Weiterentwicklung von Traditionen, persönliche Nostalgien – häufig tat das Jazzfest 2011 einen Blick „zurück in die Zukunft“. Der Finne Iiro Rantala gab seiner Vorliebe für „Lost Heroes“ nach und schlüpfte mit Klangsinn, Phantasie und Humor in das Klanggewand Haut eines Erroll Garner oder Art Tatum, versteckte dazwischen ganz zarte „Tears for Esbjörn“ (Svensson). Seine gleichnamige CD wurde vom Verband der deutschen Schallplattenkritik zur „Platte des Jahres“ gekürt und der Preis in Berlin überreicht. Während sich die ganz Jungen in „Neuer Einfachheit“ versuchten – etwa das norwegische Trio „PELbO“ mit dreiklangsgesättigten, in elektronische Verfremdung umschlagenden Tubatönen in der experimentellen „Late Night“-Reihe auf der Seitenbühne – tat sich Joe Sample, Keyboarder der legendären „Crusaders“, mit der NDR Bigband und deren Ex-Leiter Nils Landgren zu schmissigen „Children of The Sun“ zusammen. Und der Auftritt des Steve Swallow Quintet wurde zum bewegendsten Ereignis des Festivals: Unauffällig hielt die 73-jährige Carla Bley von der Hammondorgel aus die Fäden in der Hand, während Swallow am Bass und der Gitarrist Steve Cardenas fragiles, sensibles Rankenwerk zauberten – Musik, die bei aller scheinbaren Einfachheit in die Tiefe geht.