Lessings „Nathan der Weise“ wurde erst 1783 uraufgeführt. Da hatte Mozart schon die vor 1780 fertigen 15 Arien seiner „Zaide“-Komposition beiseitegelegt. Den damals populären „Türken-Stoffen“ fügte er stattdessen mit der 1782 uraufgeführten „Entführung aus dem Serail“ ein Juwel hinzu. Die erst nach seinem Tod wiedergefundenen Arien und Musikteile der „Zaide“ sind Fragment. Die x-fachen Bearbeitungen seither gäben fast Stoff zu einer eigenen Oper.
In der Reihe seiner Sonntagskonzerte mit Raritäten hat nun das Münchner Rundfunkorchester einen neuen Versuch unternommen – als Podcast noch sieben Tage in BR-Klassik.de/Programm/Konzerte nachhörbar.
Die Musik ist es wert: Zaides Arie „Ruhe sanft“ ist mit ihrer Pamina-nahen Süße ein Sopran-Hit, von Oboe und sanften Streichern umspielt; sie legt dem möglichen, aber schlafenden Retter Gomatz im Kerker Geld und ihr Bild hin – und der bricht beim Erwachen in einen Vorläufer von Taminos „Bildnis-Arie“ aus – eben „Instagram 1780“; der Sultan, der Zaide zur Favoritin seines Serail machen will, ist als „Löwe“ mit musikdramatischer Attacke gut gezeichnet… und dann beginnen die Probleme mit dem Fragment…
Es war eine Aufführung vor einem Horizont, das an einen abstrakt geometrischen Bühnenbildaufbau erinnerte. Dirigent Rinaldo Alessandrini ist ein Spezialist für Musik des Barock und der frühen Klassik. Er hatte das RO schon im 1.Satz der für die fehlende Ouvertüre herangezogenen Posthorn-Serenade Mozarts zu einem Vibrato-armen, straff-kantigen Klang animiert und sorgte für fließende Lebendigkeit. Bass Levente Palli war ein geschmeidiger Frauenhändler Osmin mit guten Lach-Phrasen. Jörg Schneiders Sultan wirkte nur äußerlich gemütlich: seine tenoralen Macht-Ausbrüche klangen gefährlich. Jeremy Ovendens Gomatz war ein sympathischer Mit-Sklave Zaides, dessen tenorale Liebe nicht zu feurig strahlte – denn am Ende stellt er sich als ihr Bruder heraus. Miah Persson verströmte alle lyrische Dolcezza einer künftigen Lieblingssklavin, nur muss Zaida dann auch entschieden - in Richtung von Konstanzes „Martern aller Arten“ - todesmutigen Furor entfachen und da kam ihr Sopran an dramatische Grenzen. Doch Arien- und Schluss-Beifall waren zurecht für alle ungetrübt.
Der unter dem Pseudonym Paul Esperanza schreibende, Zwischentext-erfahrene Dr. Ralf Eger hatte den Spagat zwischen der dem neuen „deutschen Singspiel“ von 1780 verhafteten Sprache der Gesangsnummern und neuen, heute akzeptablen Dialogtexten zu meistern. Auch das gelang ohne Peinlichkeiten an „Tümelei“ oder allzu bemühten Modernismen. Doch die Vielschichtigkeit Zaides zwischen der auf Flucht hoffend Planenden, der emotional Liebenden, der sich dem Sultan vehement Verweigernden und sich dann sogar für den geliebten Gomatz als alleiniges Opfer Anbietenden bräuchte eigentlich mehr Text. Abermals nicht zu bewältigen war das Text-Finale: der Haushofmeister Allazim ist Graf und hat den Sultan mal aus Piratenhaft befreit und ist nun unerkannt selbst halber Sklave, aber auch Vater der Geschwister Zaide und Gomatz - wie in Lessings „Nathan“ sind fast alle miteinander verwandt, haben sich wechselseitig verloren und unerkannt gerettet… anhaltendes Gelächter im Publikum…
Doch dieser – der Verordnung Kaiser Joseph II. zu grundsätzlichen „heiteren Schlüssen“ im Theater – typische „Wiener Schluss“ beinhaltet atemberaubend Aktuelles! Bariton Nikoley Borchev hat als Allazim dem Sultan entgegenzuhalten „Ihr Mächtigen seht ungerührt auf eure Sklaven nieder; und weil euch Glück und Anseh’n ziert, verkennt ihr eure Brüder“ – das ist nicht nur pure aufklärerische Attacke wenige Jahre vor der Französischen Revolution, es ist Vorklang von Schiller-Beethovens „Alle Menschen werden Brüder“ bis hinein in unser wundes Europa – und leider erschreckend aktuell. Baritonal volltönend muss Borchevs Allazim aber dann noch weitersingen: „Nur der kennt Mitleid, Huld und Gnad‘, der, eh‘ man ihn zu Rang erhoben, des wandelbaren Schicksals Proben im nieder’n Staub gesammelt hat“ – da sind Oper und Politik grandios vereint: da reicht der Stunden-Besuch eines deutschen Ministers bei einer Hartz IV-Empfängerin eben nicht, da ist eine Forderung nach herb-wahrer Lebenserfahrung aller Machthabenden aufgeworfen - leider eben immer noch utopisch anmutend, auch fast 250 Jahre nach Mozart!