Kein Alltagslärm sollte den Maestro stören. Als Arturo Toscanini am 25. August 1938 im Park von Richard Wagners Villa auf Tribschen bei Luzern sein neues Elite-Orchester aus Solisten und Kammermusikern dirigierte, durften Passagierschiffe auf dem Vierwaldstättersee keine Signale abgeben. Kindergeschrei in der Nachbarschaft war ebenso unerwünscht wie Hundegebell. Ein Gedenkstein im Park erinnert heute an die Geburtsstunde des Lucerne Festivals, das in diesem Sommer sein 75. Jubiläum feiert.
In Zeiten des Faschismus und der Nazi-Diktatur wollte der berühmte italienische Dirigent nicht mehr in seiner Heimat oder in Bayreuth und Salzburg auftreten. Bei den Musikfestwochen in der politisch neutralen Schweiz waren in den folgenden Jahren viele Künstler zu Gast, die unter den Nazis nicht mehr auftreten durften. Andererseits lud das Festival 1948 als erster Veranstalter außerhalb von Deutschland das ehemalige NSDAP-Mitglied Herbert von Karajan ein. Bis zu seinem Tod 1989 gastierte der Dirigent regelmäßig mit den Berliner Philharmonikern in Luzern. Dort entdeckte er 1976 auch die junge Geigerin Anne-Sophie Mutter, die ihm seine Weltkarriere verdankt.
Seit 1999 setzt Intendant Michael Haefliger in dem vom französischen Stararchitekten Jean Nouvel entworfenen Konzerthaus die Festwochentradition mit neuen Akzenten fort. Um neben traditionellen Konzertgängern auch ein neues Publikum anzuziehen, bietet das Lucerne Festival außer hochkarätigen Musikprogrammen im Kultur- und Kongresszentrum KKL und an anderen Orten der Stadt noch zahlreiche kostenlose Rahmenveranstaltungen wie etwa ein Straßenmusikfest. Auch das diesjährige Festivalmotto ‚Viva la revolución‘ steht unter anderem für das Ziel, Kultur überall in der Gesellschaft zu verankern.
Am Tag des Jubiläums hatten alle Besucher freien Eintritt zu Konzerten, Filmen und Kinderprojekten. Gefeiert wurde auch das zehnjährige Bestehen des Lucerne Festival Orchestra, das mit seinem Chef Claudio Abbado der größte Publikumsmagnet des Festivals ist. Ebenso lange leitet Pierre Boulez schon die Lucerne Festival Academy, in der angehende Musiker und Dirigenten zeitgenössisches Repertoire erkunden. Das Festivalorchester knüpft an Toscaninis Idee eines Elite-Klangkörpers an. Damals bildete das Orchestre de la Suisse Romande die Basis, heute ist es das von Abbado mit begründete Mahler Chamber Orchestra, das gemeinsam mit international renommierten Solisten und Kammermusikern wie der Klarinettistin Sabine Meyer, dem Kontrabassisten Alois Posch, dem Bratscher Wolfram Christ, dem Oboisten Lucas Macías Navarro, dem Hagen Quartett und dem Leipziger Streichquartett auftritt.
Wagners ‚Siegfried-Idyll‘, das Toscanini 1938 am Entstehungsort aufführen ließ, durfte beim aktuellen Jubiläum nicht fehlen. Wie damals standen auch jetzt Mozart und Rossini auf dem Programm des Festivalorchesters. An Stelle von Abbado trat sein Assistent Gustavo Gimeno ans Pult. Gimeno, der als Schlagzeuger begonnen hat, bekam in dieser Disziplin Konkurrenz von dem österreichischen Perkussionisten Martin Grubinger, der vor dem KKL eine Salsa-Session veranstaltete. Das Akademieorchester spielte Zeitgenössisches von Steve Reich und Olivier Messiaens gigantische Turangalîla-Sinfonie, außerdem traten Ensembles der Wiener Philharmoniker und des Amsterdamer Royal Concertgebouw Orchestra auf.
Am Abend nach der heiteren Jubiläumsfeier stimmte das diesjährige Abschlusskonzert von Abbado und seinem Orchester eher nachdenklich. Düsternis zog gleich zu Beginn von Schuberts unvollendeter Siebter Sinfonie auf, als die tiefen Streicher das Eingangsmotiv anstimmten. Wie bereits bei Beethovens ‚Eroica‘ im Eröffnungskonzert fiel Abbados Wahl extrem langsamer Tempi auf. Es war eine Darbietung auf höchstem musikalischem Niveau, deren Intensität fast die Schmerzgrenze erreichte.
Die ‚Unvollendete‘ klingt in einem zarten Pianissimo aus, ebenso wie das Adagio von Bruckners Fragment gebliebener Neunter Sinfonie, die dem ‚Lieben Gott‘ gewidmet ist. Abbado dirigierte nur die drei Sätze, die der Komponist vor seinem Tod vollenden konnte. Voller Hingabe folgten die Musiker den verhaltenen Gesten des Dirigenten, der die existentielle Tiefe des spätromantischen Meisterwerk auf berührende Weise auslotete. Selbst das dämonisch-stampfende Scherzo verlor seine gewohnte Schärfe. Zum emotionalen Höhepunkt geriet das von starken Dissonanzen geprägte Adagio, das im Nichts verebbte. Das Publikum verharrte schier atemlos, bis Abbado die Stille nach dem Schluss beendete und langer Applaus einsetzte.
Schubert, Bruckner und Beethovens ‚Eroica‘ wird das Festivalorchester im Oktober auch in der Suntory Hall in Tokio aufführen. Zuerst führt die Tournee nach Matsushima im Nordosten des Landes, wo das schwere Erdbeben und der Tsunami im März 2011 verheerende Schäden anrichteten. Eine Stunde von dem Kernkraftwerk Fukushima entfernt wird Abbado mit Solisten des Orchesters in einer neuen mobilen Konzerthalle auftreten, die von dem japanischen Architekten Arata Isozaki und dem britischen Künstler Anish Kapoor entworfen wurde. Das vom Lucerne Festival und der japanischen Konzertagentur Kajimoto initiierte Projekt soll wieder Kultur in die Katastrophenregion bringen.
Eingeweiht wird die aufblasbare rote Halle mit 500 Sitzplätzen bereits Ende September mit dem Sendai Philharmonic Orchestra unter Gustavo Gimeno. Zuvor wird der venezolanische Dirigent Gustavo Dudamel mit Kindern aus der Region ein Musikprogramm aufführen. Und zum Abschluss dirigiert der japanische Komponist Ryuichi Sakamoto ein neu formiertes Jugendorchester. Die Konzerthalle soll dann auch in anderen Teilen der Region aufgestellt und bespielt werden.