Mit dem Projekt „Vistaar“ widmet sich das Zafraan Ensemble aus verschiedenen Blickwinkeln der nordindischen Hindustani-Musik. Im musikalischen Austausch mit den indischen Musikern Mohi Bahauddin Dagar und Aneesh Pradhan gestalteten die Musiker:innen am vergangenen Mittwoch einen außergewöhnlichen Abend im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie, bei dem Performances mit indischer klassischer Musik dem von indischer Musik beeinflussten Schaffen zeitgenössischer Komponisten gegenübergestellt wurde.
Die Idee, unterschiedliche musikalische Kulturen oder auch differierende performative Zugänge zur Musik miteinander zu konfrontieren, zieht sich seit Jahren wie ein roter Faden durch die Programmgestaltung des in Berlin ansässigen Zafraan Ensembles. Beim aktuellen Projekt „Vistaar“, das am Mittwochabend im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie präsentiert wurde und danach noch in Stuttgart und Hamburg gastieren wird, steht der kreative Dialog mit der Hindustani-Musik Nordindiens. Jeder der beiden umfangreichen Teile des gut zweieinhalbstündigen Konzertabends begann mit der Präsentation eines Beispiels aus diesem Bereich.
Erkundung melodischer Dimensionen
Der erste Teil stand hierbei ganz im Zeichen einer Erkundung von melodischen Dimensionen dieser Jahrhunderte alten Musiktradition und begann mit einem Solo für Rudra Vina, vorgetragen von Mohi Bahauddin Dagar. Begleitet von Uday Krishnakumar an der Tanpura offenbarte Dagar mit einer feingliedrig angelegten Erschließung des zugrundeliegenden Ragas seine ganze Meisterschaft in der Beherrschung dieses diffizilen, heute selten gespielten Instruments.
Uday Krishnakumars im Anschluss erklingende Komposition „Of Hiding“ (2023), die erste Uraufführung des Abends, wirkte nach diesem eindrücklichen Auftakt so, als habe der 1979 geborene Komponist, selbst Spieler der Rudra Vina und Schüler Dagars, die spezifischen Eigenheiten dieses Instrumentalvortrags – die außerordentlich detaillierte und präzise Arbeit mit Tonhöhen und Klangbewegungen – unter einem Mikroskop analysiert und in den Klangraum des räumlich verzweigt aufgestellten Ensembles hinein vervielfältigt: Feinste melodische Verästelungen der einzelnen Instrumentalstimmen werden zu einem Netz ausgebreitet, überkreuzen sich unter Einbeziehung minimaler Tonverschleifungen und ruhiger Glissandospuren, umschreiben Schwankungen im Tonraum und werden stellenweise vom Rauschen tonlos gestrichener Saiten oder leiser Bläser-Luftströme abgelöst. Die Musiker:innen stellten hier ihre enorme Gestaltungskraft beim Umgang mit Farb- und Klangnuancen in den unteren Randbereichen des dynamischen Spektrums unter Beweis und lieferten eine konzentrierte Darbietung der filigranen Musik, deren Spannung auch über Pausen hinweg erhalten blieb.
Dass der Komponist die Klangfarbenpalette des Ensembles durch den Einsatz eines Clavichords (gespielt vom Ensemble-Pianisten Clemens Hund-Böschel) bereicherte, sorgte für zusätzliche Spannung, da das historische Tasteninstrument aufgrund seiner feinen Manipulationsmöglichkeiten im Tonhöhenbereich zumindest in einigen Aspekten an die vielfältigen Abstufungen einer Rudra Vina erinnert. Eine besondere Wirkung resultierte zudem daraus, dass Krishnakumars Clavichord-Solostück „Interior, second courtyard“ (2023) – eine zweite Uraufführung – allmählich aus dem Schlussabschnitt der Ensemblekomposition herauswuchs, um dann in einem zarten Monolog die ziselierten Ereignisverläufe auszutasten und an den Rand des Schweigens zu führen.
Auseinandersetzung mit der Rhythmik
Im Mittelpunkt des zweiten Konzertteils stand die Auseinandersetzung mit der komplexen nordindischen Rhythmik. Dementsprechend eröffnete der Tabla-Spieler Aneesh Pradhan, am Harmonium begleitet von Sudhir Nayak, mit einem traditionellen Solo, das dem Publikum Einblicke in die charakteristischen Klang-Rhythmus-Variationen dieses für die Hindustani-Musik zentralen Perkussionsinstruments vermittelte. Die beiden nachfolgenden Werke des 1974 geborenen Komponisten Stefan Keller knüpften unmittelbar an dieser Ausdrucksdimension an und profitierten dabei naturgemäß von Kellers eigenen Erfahrungen als Tablaspieler und Schüler Pradhans. Sie machten auch deutlich, dass es der Komponist aufgrund der Impulse aus der indischen Musik geschafft hat, mit seinem Schaffen einen stark ausgeprägten Individualstil innerhalb der zeitgenössischen Musikszene auszuprägen.
Auch wenn im Ensemblestück „Soma oder Die Lust am Fallenlassen“ (2015) keinerlei offensichtliche Bezüge zur indischen Musik hörbar wurden, war doch das Bestreben des Komponisten hörbar, den Parameter Rhythmus im Rahmen der europäischen zeitgenössischen Musik neu zu denken: Von Beginn an ist das Geschehen hier um den extrovertierten Vorwärtsdrang rhythmischer Verläufe und Texturen gelagert, die teils in blockartige Unisoni gegossen werden, sich aber auch in Glissandomustern gegeneinander verschieben und schließlich gar in eine fahle, fast farblose Schlussepisode münden, in der die Bewegungsenergie vollständig zum Erliegen kommt.
In der Komposition „Entangled Strands“ für Tabla und Ensemble (2023) – der letzte Uraufführung des Abends und wie „Soma“ von Victor Aviat dirigiert – stellte Keller dagegen einen deutlich wahrnehmbaren Bezug zwischen seinem Komponieren und der indischen Musik her: Er nutzte das Ensemble, um von der solistischen Tabla aus den Ensemble-Klangkörper als zeitgenössischen Resonanzraum für die klanglichen Facetten der komplexen Rhythmik zu benutzen und dabei zugleich das Verhältnis zwischen Solist und Musiker:innen vielfältigen Perspektivwechseln zu unterziehen. Dass der Widmungsträger Pradhan hier zumindest passagenweise gemeinsam mit seinem Schüler Keller agierte, letzten Endes also Lehrer und Schüler in solistischer Funktion zusammengeführt wurden, verlieh dieser abschließenden Nummer einen zusätzlichen Reiz.
Insgesamt ist das „Vistar“-Projekt ein erneuter Beweis für die Kreativität des Zafraan Ensembles beim Nachspüren relevanter musikalischer Fragestellungen. Resultat dieser Begegnung zweier Musikkulturen auf Augenhöhe war ein trotz seiner Länge ebenso kurzweiliger wie abwechslungsreicher Abend, der nicht zuletzt auch zum Nachdenken über Beständigkeit und Wandelbarkeit kultureller Eigentümlichkeiten anregte.
Weitere Aufführungen:
- 4. Mai 2023, 19:30 Uhr, Theaterhaus Stuttgart
- 7. Mai 2023, 18:00 Uhr, resonanzraum Hamburg