Das ist eine steile These, deren Konsequenzen sich die Inszenierung eindrucksvoll hingibt. Die Toten der Unterwelt sind wahrscheinlich alle Selbstmörder, sie schreiben ihre Namen oder die ihrer verlorenen Freunde auf einen schwarzen Turm, der ins Nichts führt (schnörkelloses Bühnenbild von Clémence Bezat). Drei Ärzte sind permanent unterwegs, um den Sterbewilligen zu helfen, und die Rolle des Amor ist eine Ärztin, die Eurydike bei ihrem erneuten Tod aufklärt und ihr hilft. Die so bewegende Schlichtheit von „Che farò senza Euridice?“ wird hier zu Orpheus’ Akzeptanz von Eurydikes Todeswillen: wollte er ihr gar folgen? Und mit der dieser Deutung eigentlich widersprechenden Schlussmusik könnte man dann annehmen: Der Tod ist zwar stärker als die Liebe, aber er trennt die Menschen nicht voneinander. Und das Schönste an Houbrechts Arbeit ist, dass sie keine Antworten liefert, sondern hochaktuelle Fragen aufwirft, die Orpheus erlauben, am Beginn erst einmal das Publikum anzumachen: Was wollen Sie hier? Warum gehen Sie nicht nach Hause? Eine Aktualität, die die Verantwortlichen veranlasst, die Notrufnummer für suizidgefährdete Menschen nicht nur anzusagen, sondern auch im Programmheft abzudrucken.
Houbrechts ist bereits bekannt durch ihre interdisziplinären Arbeiten zwischen Musik, Bild, Tanz, Schauspiel und Gesang. Gleichwohl ist dies die erste Operninszenierung der 32-jährigen Belgierin, die an Kühnheit der Ideen kaum zu überbieten ist. Sie unterstützt die Musik durch Tanz, aber mit traditioneller Bebilderung der dafür vorgesehenen Musiken hat das nichts zu tun, auch nicht mit dem Ballettproblem, das Gluck in der damaligen Operndiskussion selbst hatte. Sie verzichtet auf die Balletteinlagen, die Gluck einige Jahre später für eine neue französische Fassung 1774 schrieb. Hier, in der ersten sogenannten Wiener Fassung von 1762 hat das Ballett die Aufgabe, mit einem grenzenlosen Ausdruck von Gefühlen die Erweiterung der Emotionen der Protagonist:Innen, aber auch der Chorist:Innen zu zeigen. Da zucken und toben die Körper in einer leidenschaftlichen Choreografie von Diego Tortelli.
Auch das hoch motivierte Orchester unter der mitreißenden und flexiblen Leitung von Benjamin Bayl spielt mit herrlichen, auch alten Klangfarben. Nina van Essen als Orpheus: die niederländische Mezzosopranistin hat viele Jahre mit der Wärme und Flexibilität ihres Timbres in Hannover beglückende Rollen gesungen, nun geht sie nach Amsterdam und gerade nach diesem Orpheus wird man sie vermissen. Seine Eurydike an diesem Abend war die ausdrucksstarke Meredith Wohlgemuth, mit der zusammen van Essen schon ein unvergessliches Paar als Romeo und Julia (Bellini) gestaltete. Und Silvia Frigato als Amor/Ärztin begleitete das Paar bestens. Der Beifall kannte keine Grenzen. Von der Opernregisseurin Lisaboa Houbrechts wird man hören – ganz sicher.
Die nächsten Aufführungen: 24. März, 13., 18., 21., 24. und 27. April und 17. Mai.