Am Deutschen Nationaltheater Weimar gelang mit der posthumen Uraufführung von Joachim Raffs Musikdrama „Samson“ (entstanden 1851 bis 1857) ein faszinierender Wurf. Calixto Bieitos intensive Regie und die großartige musikalische Gesamtleistung unter Dominik Beykirch, das starke Ensemble, die feinnervige Staatskapelle Weimar und der choreographisch in Bestform agierende Opernchor lieferten ein überzeugendes Plädoyer für „Mehr Raff wagen!“
Nach drei Stunden reiner Spieldauer ist klar: Die posthume Uraufführung von Joachim Raffs „Samson“ am Deutschen Nationaltheater Weimar bereichert das landläufige Bild vom 19. Opern-Jahrhundert um mindestens so viele Erkenntnisse wie vor 20 Jahren Jacques Offenbachs „Die Rheinnixen“. Das liegt einerseits an der wissenschaftlichen Akribie, mit welcher der Liszt-Mitarbeiter in Weimar den heiklen Kraftmeier-Stoff aus den alttestamentarischen „Buch der Richter“ auf Höhe der historischen Wissenschaft seiner Zeit aufdröselte und in fordernde Musikdrama-Form brachte. Die experimentelle Partitur Raffs blieb in der Schublade, während das auf Liszts Betreiben später in Weimar herausgekommene Erotik- und Testosteron-Hybrid „Samson und Dalila“ von Camille Saint-Saëns zum Hit wurde. Vom Symphoniker Raff, der sich zur ‚richtigen‘ Programmmusik nicht traute, erwartete man nach den letzten Opern-Entdeckungen aus seiner Feder eigentlich wenig. „Benedetto Marcello“ und „Dame Kobold“ (Regensburg 2020) sind bekömmliche Lyrik-Schonkost.
Und jetzt dieser monumentale, subtile, packende und bestens ins explosive Zeitumfeld von 2022 passende „Samson“! Ein großer Wurf. Bei der Weimarer Produktion kommen mehrere für ein solches Projekt unerlässliche Faktoren zusammen: Der Einsatz von Musiktheater-Direktor Dominik Beykirch, der Mumm von Intendant Hasko Weber, der Relevanz-Anspruch von Operndirektorin Andrea Moses, das kompetent-beherzte Ensemble und ein Calixto Bieito, der bei der Darstellung des zivilisatorischen Brutalitätenwahnsinns zur Bestform aufläuft. Weill Raffs Musik und Textbuch das hergeben, gerät der lange Abend verdammt kurzweilig. Bieito und sein Bühnenbildner Philip Rubner pferchen den mit Studierenden der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar eindrucksvoll vergrößerten Opernchor (erstklassige Einstudierung von Jens Peteriet) in einen Saal. Dessen Holzwände fallen und acht Blechbläser auf der Bühne geben immer wieder einen Vorgeschmack auf die Posaunen von Jericho.
Bieito überträgt die Konflikte zwischen Philistern und Israeliten in ein einziges Kollektiv, von Ingo Krügler kostümlich angemessen ausstaffiert. Diese Masse ist voll normal, also strebsam und grausam. Aber noch hat sie die kleine Sehnsucht nach der großen Harmonie. Das sieht man im fünften Akt vor der totalen Vernichtung durch Samson. Bei den Solopartien verteilt Bieito Gewaltimpulse und Opfersucht auf fast alle Figuren. Die Frauen haben es aber noch schwerer. Da überträgt Bieito die aus David Grossmanns „Simson“-Studie „Der Löwenhonig“ gewonnenen Erkenntnisse auf die Stadtbevölkerung von Gaza und deren Oberhaupt Abimelech, Delilahs Vater. Ganz wichtig: Bei Raff ist Delilah keine systemkonforme Sex-Arbeiterin aus feinen Kreisen, sondern eine im Konflikt zwischen kindlichem Liebhaber und ihrer Familie große Figur. Emma Moore setzt eine ganz hohe Qualitätsmarke – gesanglich sowieso. Aber auch, wenn sie den kindlich traurigen Held mit prolliger Attraktivität erst bändigt und dann ehrlich liebt. Bieitos „Selbstmordattentäter“ Samson wird, wenn er die blutrote Bomberjacke auszieht, ein reiner Tor in blütenweißen Bermudas. Samson singt und artikuliert weitaus subtiler als Wagners Heldenmaschinen. Bei einer historisch informierten Aufführung hätte er für „Tannhäuser“ und „Rienzi“ die richtige Stimme mit leichter Kraft und Verletzlichkeit. Auch der Abimelech des großartigen Uwe Schenker-Primus ist Charakter-Dynamit zwischen devoter Leidlüsternheit und Herrscherpranke. Peter Sonn in der Titelpartie betont Raffs filigrane und von Meyerbeer erlernten Anforderungen. Taejun Sun als übergelaufener Israelit Micha liefert seinen Part heldisch bis belcantesk. Ein satter Weimarer Fang fürs schwere Bassfach ist Avtandil Kaspeli (bei Raff erwartungsgemäß Oberpriester). Präsent verdichten Sayaka Shigeshima als fast stummes Frauenopfer, Oleksandr Pushniak und Jörn Eichler das pessimistische Zivilisationsmysterium.
Dieses pendelt zwischen Extremen. Laszive Rollenspiele, Liebe und menschliche Tiefe schließen sich nicht aus, wenn Delilah und Samson zusammengeraten. Wären Parsifal und Kundry so, gäbe es Publikumsrandale. Aber es stimmt alles und rührt an. Gegen Ende liefert Raff eine lange Ballettmusik. In der spielen Chor und Regie (ohne Choreographie-Beistand, Kompliment!) eine schwebende Pantomime vom Kinderparadies für Erwachsene mit unschuldigem Konsumkram. Eine schreiende Schwangere presst dazu einen Basketball aus ihrem Unterleib. In der zweiten Vorstellung sitzen mehrere Schulklassen höherer Jahrgangsstufen. Diese haben mit nackter Haut auf der Bühne, selbst wenn alle anstößigen Stellen bedeckt bleiben, weitaus mehr Probleme als mit Bieitos tieftraurigen Wahrheiten über die moralischen Paradoxien in Zivilgesellschaften.
Beykirch legitimiert und befeuert das Regiegeschehen mit der an Liszt bestens geschulten Staatskapelle Weimar. Raff erfand zu den physisch-psychischen Grausamkeiten seines Textes überwiegend kammermusikalische Farbgemische. Den Primadonnen-Part hat keine Sängerin, sondern die Solo-Oboe. Zwei überdeutliche Zitate erlaubte sich Raff: Ein Bläser-Katarakt ist programmatisches Plagiat aus Meyerbeers „Robert der Teufel“, an einer anderen Stelle leuchtet Wagners „Tannhäuser“-Pilgerchor auf. Raff, der in seiner Schrift „Zur Wagnerfrage“ den selbsternannten Opernrevolutionär fundiert hinterfragte, hatte nicht wie dieser die Chuzpe zu einer affirmativen eigenen Ästhetik. Ausgehend von den mehrsätzigen Gesangsnummern à la Rossini und Meyerbeer entwickelte Raff hoch-individuelle Durchführungstechniken. In diesen gerät der explosive Gefühls- und Konflikt-Cocktail weniger drastisch als filigran. Diese Oper hätte demzufolge echte Chancen, wenn der Musiktheater-Betrieb endlich Flagge gegen den Wagner- und Verdi-Zentralismus bekennen würde. Raff hat seinen eigenen Kopf, er heroisiert weder die Gegner Israels noch seinen Antihelden Samson. Glücksfall dieser Uraufführung ist natürlich, dass Bieito Delilahs und Samsons komplizierte Beziehung plausibel geknackt hat, ohne das Publikum in die Ratlosigkeitswüste zu schicken. Friedrich Nietzsche hätte an dem Paar eine ähnlich neurotisch-hysterische Dynamik festgestellt wie bei den Liebesvisionen Wagners. Nur ist Raffs Absicht eine andere: Sie will und fordert waches Erkennen. Die aparte Klangschönheit seiner musikalischen Mikrozellen fasziniert vom ersten bis zum letzten Ton.
- Weitere Vorstellungen: Fr 30.09.2022 // 19.30 Uhr - Sa 08.10.2022 // 19.30 Uhr - Fr 21.10.2022 // 19.30 Uhr - Sa 29.10.2022 // 19.30 Uhr - Fr 18.11.2022 // 19.30 Uhr - Do 01.12.2022 // 19.30 Uhr - So 25.12.2022 // 18.00 Uhr
- Premiere Sa 11.09.2022 // 19.30 Uhr – Besuchte Vorstellung: Do 15.09.2022 // 19.30 Uhr