Natürlich ist auch diesmal wieder alles spätestens nach fünf Takten klar. Natürlich hetzen die altbekannten Staccati und punktierten Achtel durchs Orchester, wummert es mal hier, mal dort, wird eifrig geclustert und geklappert. Wir sind zugegen bei der neuesten Schöpfung des beinahe 75Jährigen Amerikaners Philip Glass. Und doch ist irgendwie nicht alles, aber doch manches anders. Es fängt schon beim Aufführungsrahmen an.
Das Linzer Brucknerhaus bittet am Neujahrsnachmittag zum Festkonzert, Hausherr Dennis Russel Davies dirigiert zunächst prägnant und schnörkellos Beethovens Achte (deren Fertigstellung der Komponist ja zum Teil in Linz erledigte). Es gibt freundlichen Applaus. Ein einviertel Stunden später tobt der Saal, man erlebt tumultöse Ovationen. Später erklärt Glass auf Nachfrage, er halte angesichts der Publikumsreaktionen Beethoven natürlich nicht für den schwächeren Komponisten…
Wie Beethoven, so revolutionierte auch Glass einst die Musik. Nach frühen Experimenten, etwa mit der Zwölftontechnik, führten ihn die Flower Power Jahre zu seiner bis heute durchgehaltenen, minimalistisch orientierten Klangästhetik. Mit Robert Wilson realisierte er experimentelles Musiktheater („Einstein on the beach“, „Satyagraha“), es folgten unzählige Ballettmusiken, Filmsoundtracks, Kammermusik, Songs, Orchesterwerke. Hauptvorwurf seiner Kritiker: unendliche Redundanz in sämtlichen Genres. Glass sagte einmal, er brauche oft mehr Zeit, die Tournee eines neuen Werks zu planen, als tatsächlich selbiges zu schreiben.
Wie gesagt, auch in seiner neunten Symphonie erfindet Glass das Rad der Musikgeschichte (oder sich selbst) nicht neu. Aber immerhin ist diese Neunte so konzise, konzentriert und auch kontrastreich wie kaum eines seiner letzten Stücke.
Nach dem eher sanft pulsierenden Streicher-Auftakt mischen sich einzelne Stimmen des üppig besetzten Orchesters (großes Schlagwerk, mehrfach verstärkte Bläser) in den dahineilenden Klangfluss. Durchaus erwartbar verdichtet sich das Stückwerk und verschmilzt zum machtvollen Ganzen. Und genau hier wird es nun spannend. Denn gegen die wuchtige Tonlokomotive ‚kämpfen’ schiefe, dissonante Akkordballungen, die Triangel wird zum vorübergehenden Impulsgeber, dann sorgen weitläufige Bögen für kurzzeitige Entspannung.
Auch der zweite Satz führt einen zunächst auf scheinbar alt vertraute Gleise. Ungetrübter, dahinplätschernder Schönklang ist zu hören, doch bald wird es auch hier rauer und unangenehmer, bis nach erneutem Tröpfeln alles im elegisch-monumentalen Schluss mündet. Der finale Satz beginnt mit einem Bläserfeuerwerk und ist auch sonst reich an Pathosgesten, doch tönt hier das Triumphalistische immer wieder wie aufgesetzt. Hinter all dem Krach und Pomp und Jubel taumeln abgründige Welten, schälen sich einsame, der rasenden Orchestermaschinerie buchstäblich unterworfene Subjekte heraus. Es braucht eine lange Weile, bis – endlich – sanfte Celli- und Kontrabass-Töne für erlösende Harmonien sorgen.
Zwar besitzt vor allem der zweite Satz einige Längen und überhaupt gerät manches zu plakativ, doch die exquisiten Farbmischungen und eine exzellente Klangdramaturgie hinterlassen gehörigen Eindruck. Das von Davies gut präparierte Bruckner Orchester trägt natürlich einen wesentlichen Teil zum Erfolg bei.
Was soll nun nach so einem Schlachtschiff kompositorisch noch kommen? Glass meint dazu, seine Zehnte sei bereits fertig gestellt, sie werde deutlich kürzer und lichter. Für die Eröffnung des neuen Linzer Musiktheaters 2013 schreibt er außerdem gerade an einer Veroperung von Peter Handkes Theaterstück „Spuren der Verirrten“, das im Sommer bei den Salzburger Festspielen herauskam. Es gibt einen eigenen, von Handke bereits abgesegneten Librettisten, die Regie übernimmt David Poutney. Beim oft als ernst und verschroben eingeschätzten Handke erkennt Glass übrigens ein veritables Humorpotential. Genau das will er in der „Verirrten“-Oper (auch) zu Gehör bringen.
Jetzt wandert aber erstmal die Neunte von Linz über den Großen Teich, die folgenden Stationen sind New York und Los Angeles.