„Musikalische Schichtungen als Annäherung an die Wirklichkeit“ – Philosophisch wie musikalisch anspruchsvoll zeigt sich das Festival „weit! neue musik weingarten!“, das, nach seiner Neuauflage im Jahr 2021, vom 18. bis zum 20. November 2022 zum zweiten Mal stattfindet und sich dem Werk von Sarah Nemtsov widmet.
Viel hat sich Rolf Stoll, Gründer des „weit!“-Festivals für die drei Tage vorgenommen: fünf Konzerte, ein Kinderkonzert sowie Vorträge. Das Programm ist den vielfältig außermusikalisch inspirierten Kompositionen Nemtsovs gewidmet. Politische und gesellschaftliche Fragen spielen ebenso eine Rolle wie die Auseinandersetzung mit der Weltliteratur. So vielfältig die eingehenden Impressionen, so technisch versiert sind ihre Kompositionen: Sarah Nemtsov verbindet Einflüsse von Renaissance- und Barockmusik mit Klängen aus Jazz und Rock.
Das dem Komponisten Toshio Hosokawa gewidmete erste „weit!“-Festival 2021 hatte sich noch stark an dessen japanischer Herkunft orientiert. Neben Performance-Vorführungen in Kalligraphie und Ikebana (kunstvolles Inszenieren von Blumen), wurden Werke Hosokawas vorgestellt, die das Verhältnis des Menschen zur Natur thematisieren – eine Thematik, die in Japans hochtechnologisierter Gesellschaft auf großes Interesse stößt. Dieses Jahr liegt der Fokus auf einer fordernden wie packenden Auseinandersetzung Nemtsovs mit den Kompositionen und der Literatur anderer Künstler. Idee des ersten Konzerts (18.11.) ist, durch Dekonstruktion Offenlegung anzustreben, Brüche und Widersprüche aufzuzeigen. Das Werk „white eyes erased“ verbindet dabei John Cage, die Avantgarde-Band Animal und Texte von Franz Kafka. Auch soziale Missstände werden bei Nemtsov identifiziert: Angelehnt an Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ erzählt sie in „Mountain & Maiden“, gespielt im 2. Konzert (19.11.), das Schicksal der auf einer Müllkippe Neu-Delhis lebenden Aaspiya.
Düster, aber mit Kraft beschreibt Finn-Ole Heinrich in der Geschichte „Helm auf!“ den Versuch eines Kindes, mit Verlust umzugehen. Diese vertont Nemtsov im Kinderkonzert (19.11.). Das 3. Konzert (19.11.) enthält eine starke biografische Prägung mit Werken in Bezug auf ihre jüdische Familiengeschichte.
Neben eigenen Werken Nemtsovs, „SHESH“ und „Kaleidoscop“, werden Benedetto Marcello und Arnold Schönberg zur Aufführung gebracht. Sie zeigen, wie vielfältig geschichtet verschiedene Wirklichkeiten sein können. (19.11.) Die Konzerte Nr. 4 und 5 (20.11.) widmen sich verstärkt den großen Namen der europäischen Geistesgeschichte, darunter Wolfgang Amadeus Mozart und Franz Schubert, sowie Walther Benjamin und Marcel Proust.