Das mythologische Atridendrama um Agamemnon, seine Ehefrau Klytämnestra, deren Liebhaber Aegisth, und die Kindern Iphigenie, Elektra, Chrysothemis und Orest ist eines der klassischen Schlachtfeste des antiken Dramas: Der Vater opfert Iphigenie aus politischen Motiven, Klytämnestra und Aegisth erschlagen Agamemnon. Orest wird als Kleinkind zu Bauern gegeben (er wird später Klytemnästra und Ägisth töten), Elektra will ihren Vater rächen, Chrysothemis eine „normale“ Existenz aufbauen.
Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal haben in einer nur leicht bearbeiteten Fassung des Sophokleischen Dramas (das um das Jahr 413 vor Christus in Athen uraufgeführt wurde) 1903 zu einer einaktigen Oper umgearbeitet, die am 25. Januar 1909 im Königlichen Opernhaus Dresden uraufgeführt und seinen Siegeszug durch die Welt antrat. Bis heute ist das Werk eine der am häufigsten aufgeführten Opern von Strauss, für Viele ein Kultstück und einer der blutrünstigsten Schocker der Opernliteratur.
Die zum Verständnis notwendige Vorgeschichte: Nach der Rückkehr Agamemnons aus dem Trojanischen Krieg wurde er von seiner Frau Klytemnmnästra und ihrem Geliebten Aegisth ermordet, konkret im Bad erschlagen. Ihre Tochter Elektra brachte daraufhin ihren kleinen Bruder Orest außer Landes in Sicherheit. Dort wird er zum Rächer seines Vaters erzogen. Am Hof von Mykene hält Elektra als Einzige die Erinnerung an die Ermordung ihres Vaters aufrecht und wartet auf den Tag der Vergeltung. Mit dem setzt die Opernhandlung ein.
Der russische Regiestar Dmitri Tcherniakov (der auch sein eigener Bühnenbildner ist) schert sich nicht um Antike, klassische Fallhöhe und griechische Mythen. Er siedelt das Stück stattdessen in einer realistisch gebauten, mit Koffern, Büchern und allerhand Krempel vollgestopften großbürgerlichen Villa mit Ausblick auf gründerzeitliche Häuserfassaden an, sie könnte in St. Petersburg ebenso wie in Hamburg Harvestehude stehen.
Klytemnästra hat zum Kaffeekränzchen geladen. Die fünf Mägde und ihre Aufseherin sitzen als schrullige alte Damen am Teetisch. Unter ihnen Klytemnästra in rotsamtenem Morgenmantel. Man legt ihr eine Schönheitsmaske an, bevor sie weggeführt wird. Sie ist verwirrt, hinfällig, ein altes Wrack mit zerzausten, weißen Haaren. Sie trägt eine opulente Perlenkette und große Ringe. Eine großbürgerliche Oma, eine Greisin mit schütterem Haar, gehbehindert und unfreiwillig komisch. Dass sie eine der dämonischsten Partien der Opernliteratur ist, nimmt man in Tcherniakows Inszenierung nicht wahr. Auch ihr Mann, Aegisth (eine Paraderolle eines jeden Charaktertenors) gerinnt bei Tcherniakows zum dicken Opa in Strickweste.
Selbst Elektra, das in Racheraserei wütende, verhärmte Überweib, das aller Weiblichkeit entsagt um nur noch im Andenken ihres geliebten Vaters Agamemnon lebt, wird herabgestuft zu einer recht heutigen, burschikosen jungen Frau, die etwas neurotisch und merkwürdig (einmal steigt sie sogar mit sexueller Attitüde auf ihre Schwester), zudem spastisch zuckend und unentwegt mit den Armen fuchtelnd (in deutlichen Verhaltensstörungen), in ihres Vaters Anzug, Mantel und Hut auftritt, und Vaterriten feiert. Sie zieht den Anzug ihres Vaters aus, stopft ihn aus zu einem Popanz von Agamemnon, setzt ihn an den Tisch und steckt Wunderkerzen in seinen Strohkopf, um sie anzuzünden.
Orest, der antike Vater- und Muttermörder, Vollstrecker von Elektras Rachedurst, in Parka, Hoodie, Jeans und Lederboots auf, wie ein moderner Serienmörder. Ein Steckbrief auf dem Portal klärt darüber auf. Am Ende ersticht er selbst die unschuldige Chrysothemis und setzt alle Leichen blutüberströmt an den Tisch des großbürgerlichen Esszimmers, in dem die ganze Oper spielt. Jack the Ripper lässt grüßen.
Ein moderner Kriminalfall eben, sonst nichts. Tcherniakov hat schon überzeugendere Regiekonzepte auf die Bühne gebracht. In seiner jüngsten Hamburger Inszenierung zeigt er sich von seiner unoriginellsten Seite, zumal seine Personenführung konventionell ist und zwei der exponiertesten Figuren der Operngeschichte, Elektra und Klytemnästra von ihm banalisiert werden.
Banal ist auch Kent Naganos Dirigat. Es ist ein lärmender, immer viel zu lauter Sound, den Nagano mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg mobilisiert. Es überwiegt eine weithin sehr pauschale, wenig strukturierte, vordergründige Lesart, die weit entfernt ist von Transparenz der vielen kontrapunktischen Stimmüberlagerungen und von fein abgestufter Klangsinnlichkeit. Natürlich ist „Elektra“ ein lautes Stück. Aber die permanente Phonstärke der Aufführung ist nicht nur für die Zuhörer eine Zumutung. An Klarheit und Durchhörbarkeit der Struktur hat man das Werk selbst an sogenannten „Provinztheater“ schon weit überwältigender gehört. Manche Nebenstimmen und Details sind bei Nagano schlicht unhörbar, das unterschwellig Rumorende der Elektra-Musik, das Aufmüpfige, das Moderne kommt entschieden zu kurz. Nur mit Herausmodellierung der „schönen Stellen“ kommt man dem Werk nicht bei. An scharfer Partituranalyse, handwerklicher Präzision und intelligenter Gestaltung bleibt viel zu wünschen übrig. Es gibt neben Klang-Explosionen immer weder langweilige Durststrecken fern aller musikantischen Inspiration. Vor allem die Sänger tun sich hörbar schwer, gegen den orchestralen Tsunami anzusingen, der die Oper der Elbmetropole und Hafenstadt überflutet.
Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass alle 11 Neben-, aber auch alle 5 Hauptpartien unzureichend besetzt sind, schon weil man kaum ein Wort von Ihnen versteht. Am ärgerlichsten ist die Elektra der litauischen Sopranistin Aušrinė Stundytė. Ob ihr Vortrag ans Flüstern grenzt oder ob sie bei ihren Spitzentönen aus Leibeskräften schreit (von Singen zu sprechen wäre Blasphemie): sie ist kaum je zu verstehen, singt weitgehend nur Vokalisen, bemüht sich gar nicht erst um Textverständlichkeit und deutliche Artikulation. Eigentlich ist ihre Interpretation eine Zumutung. Man darf gar nicht daran denken, dass einst eine Birgit Nilsson in Hamburg die Partie sang.
Auch die Amerikanerin Jennifer Holloway als Chrysothemis, an sich ein warmer runder und großer Sopran, fällt vor allem durch Wortunverständlichkeit auf. Der estländische Bariton Lauri Vasar hat die beste, klarste zudem eine markig-virile Stimme des Abends, und doch hätte es etwas mehr an Power sein dürfen bei ihm. Aber auch er hat bei dem gnadenlosen Dirigat Naganos keine Chance. Der Brite John Daszak singt den Ägisth ohne jede ironische Pikanterie routiniert ja opernhaft. Eine vertane Chance. Welche Kabinettstücke an Charakterisierungskunst hat man in dieser Partie schon erlebt in früheren Aufführungen, nicht nur in Hamburg.
Am singschauspielerisch beeindruckendsten ist die Klytämnestra der litauischen Sopranistin Violeta Urmana, die freilich bessere Tage hatte. Man erinnert sich an ihre sängerisch großen Verdi- und Wagnerinterpretationen. In Hamburg kann sie nur noch mit Resten ihrer verbrauchten Stimme aufwarten, die sie allerdings im Dienste rollendeckender Charakterisierungskunst dieses monströsen mythologischen Weibes klug einzusetzen weiß. Freilich ist sie nie eine begnadete Darstellerin gewesen und von der Dämonie einer Martha Mödl oder Astrid Varnay, Jean Madeira, Regina Resnik und Christa Ludwig, um nur einige wenige Interpretinnen der Partie zu nennen, ist sei meilenweit entfernt.
Nach einer sehr langweiligen Produktion von „Les Contes d‘ Hoffman“ nun also eine außerordentlich enttäuschende „Elektra“. Die Hamburgische Staatsoper kannte schon bessere Zeiten.