Leporello stellt am Rand der Bühne die Teelichter auf und beklagt sein Dasein. Dann merken wir, dass sein Herr Don Giovanni zwar singt, aber gar nicht da ist. Wir befinden uns am Staatstheater Hannover in der Premiere von Wolfgang Amadeus Mozarts „Don Giovanni“ in einer Inszenierung von Benedikt von Peter, dessen radikale Bilder meist das Publikum spalten.
An der Wucht und der vieldeutigen Rätselhaftigkeit des „dramma giocoso“ haben sich Generationen von Regisseuren die Zähne ausgebissen. Günther Rennert, einer der großen des vergangenen Jahrhunderts glaubte „nicht an die Möglichkeit, für diese Partitur auch nur eine annähernd szenische Entsprechung finden zu können“. Die „Oper aller Opern“ (E.T.A.Hofmann 1813) ist ein „Gipfel, der nie wieder erreicht worden ist“ (Bertolt Brecht).
Benedikt von Peter bewegt sich auf den Spuren Sören Kierkegaards, wenn für ihn Don Giovanni keine Person, sondern ein Prinzip ist – was auch in der Musik nachgewiesen werden kann: Der große Verführer hat keine musikalische Identität. In vielen gar nicht falschen Inszenierungen ist schon umgesetzt worden, dass die Liebe von Donna Anna, Donna Elvira und Zerlina eher eigene Sehnsüchte und Projektionen als Wahrheiten sind, die von der Suggestivität einer Persönlichkeit ausgehen. Von Peter geht noch einen Schritt weiter: in den Frauen selbst lebt diese undefinierbare Begierde, die in der Lage ist, ihre gerade gelebten Vorstellungen von Liebe komplett in Frage zu stellen. In der Rachearie der Donna Anna „Du kennst nun den Frevler“ wird durch die fabelhafte Sängerin Dorothea Maria Marx eine Ambivalenz gezeigt, die uns sagt, dass sie nicht nur erzürnt über die Vergewaltigung ist, sondern auch entsprechende positive Gefühle in ihr wirbeln. Der weitgehend hilflose Ottavio durchschaut das, mit dem anschließenden „Dalla sua pace“ umarmt er nur noch ihren Mantel (sehr schön Abdellah Lasri). Die ganz andere Ambivalenz der Donna Elvira, die ihren Trieb, der Don Giovanni so ähnlich ist, in Gefühle des Rettungsversuches treibt, wird erschütternd realisiert von Monika Walerowicz. Und die Bäuerin Zerlina sucht nach einer ganz anderen Sinnlichkeit als die, die sie bei Masetto, den sie gerade heiraten will, erfährt (ebenfalls hinreißend Heather Engebretson).
Um dieses Kammerspiel der Seelen zu entfalten, nutzt von Peter Videotechniken (Bert Zander). Die Technik mit einer Live-Kamera (Jonas Schmieta) erlaubt vielerlei Perspektiven: die Szene wird hinter einem Gazevorhang – man kann sie ganz verschwommen erkennen – gespielt und auf dem Vorhang erscheinen die Gesichter in mehrfacher Vergrößerung: kein Operngesang mehr, der dem Zuschauer eine selbst gewählte und kulinarische Distanz erlaubt, sondern wütende, verzweifelte, glückliche, entschiedene, resignierte Gesichter. Immer wieder aber wechselt die Szene vor den Vorhang und dieses Wechselspiel ergibt neue spiegelartige Perspektiven für die Innen- und Außensicht. Neben vielen unter die Haut gehenden Höhepunkten ist sicher das Sextett einer, in dem die verzweifelten Verfolger – „neues Unheil jede Nacht“ – sich wie Schiffbrüchige nach vorne robben.
Kein Bühnenbild, keine historischen Kostüme, es ist also eine Gesellschaft ohne Geschichte. Das provoziert – auch da bleibt von Peter sich treu – die nackten Emotionen. Gesellschaftlich argumentiert von Peter kaum – dazu könnte man berechtigte Fragen stellen, denn drei gesellschaftliche Stände sind in der Oper ausdrücklich und sehr genau komponiert. Sehr genau ist auch durch die Entstehungszeit 1787 die Umbruchszeit des Feudalismus in eine bürgerliche Gesellschaft benannt. Don Giovanni zeigt sich nur in seinen Lederhandschuhen, wenn in ein wiedermal entsetztes Frauengesicht seine Hände fummeln und die Frauen ohne jegliche gesellschaftlichen Unterschiede weich und widerstandslos werden.
Leporello rollt alles in Kapiteln auf. Kapitel eins: Donna Anna, Kapitel zwei: Donna Elvira, Kapitel drei: Zerlina usw. Dieses quasi brechtsche Verfahren bildet den Rahmen für Leporellos Erzählung und Beobachtung. Er, der nur zu gern selber der Herr wäre, schließt mit seinem schallenden Gelächter am Ende den Rahmen (überzeugend und quirlig: Shavleg Armasi). Und in diesem Kontext gibt es auch durch den steinernen Gast (Michael Dries) keine transzendentale Instanz, sondern allerhöchstens das neue bürgerliche Moralgesetz, an dem sich alle gerieben haben. Nach dem tödlichen Händedruck mit dem einfach als alter Herr erscheinenden Komtur – nur reflektiert im entsetzten Gesicht Leporellos – verschwindet Don Giovanni ganz einfach und ist den Verfolgern wieder einmal entkommen.
Das alles funktioniert mit überragender Detailgenauigkeit, überragenden Sängerleistungen und spaltete das Publikum wie erwartet in Begeisterungsstürme und Buhs, die sich jedoch nicht so richtig durchsetzen konnten. Die Musik unter der Leitung von Benjamin Reiners erklang mehr als zufriedenstellend, es mangelte trotz oder gerade wegen groß-atmender Dimensionen mitunter an Feinheit und Delikatesse. Insgesamt ein großer Abend, der mehr Fragen stellte als Antworten gab.