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Sweeny Todd. Musikalische Komödie Leipzig. Foto: © Tom Schulze.
Sweeny Todd. Musikalische Komödie Leipzig. Foto: © Tom Schulze.
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Kannibalische Genussmanufaktur: „Sweeney Todd“ in Wave-Gotik-Treffen-City

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Geht doch – und wie! 130 besetzte Zuschauerplätze und 35 Musiker*innen auf der Hinterbühne. 42 Jahre nach der Uraufführung kommt Stephen Sondheims „Sweeney Todd“ endlich an die Musikalische Komödie Leipzig. Die Premiere erfüllt alle Erwartungen an eine opulente Ausstattung. Natürlich nutzt man zur ersten vollgültigen Publikumspremiere des im Vorderbereich frisch sanierten und optimierten Hauses Dreilinden alle neuen Vorzüge.

Es wurde lange und zu Recht gejubelt. Sabine Töpfer und Vikrant Subramanian stehen an der Spitze eines hervorragenden Ensembles.

Menschenfleisch ist gut für's Geschäft. Man muss nicht gleich so weit gehen wie das Staatstheater Hannover, welches Stephen Sondheims phänomenales Stück durch ein Pic von Clemens Heidrich mit Assoziationen an Fleischindustrie und Schlachthof auflädt. Auch in dezenter Realisierung ist die Moritat „Sweeney Todd“ neben „Little Shop of Horrors“ eines der wenigen Musical, das mit derart lüsterner Bizarrerie turbokapitalistische Prozesse poetisiert. Für die Gastgeberstadt des WGT (Wave-Gotik-Treffen), in der sich Splittergruppen der Schwarzen Szene trotz abgesagter öffentlicher Veranstaltungen auch im Frühling 2021 ihr traditionelles Pfingst-Stelldichein nicht vermiesen ließen, lag natürlich eine opulente Materialschlacht nahe.

Auf der Bühne der Musikalischen Komödie Leipzig häuften sich in Magenta gefärbte Tüll-Schichten über Frauenbeinen, Nieten, Lackzylinder und Lederwesten, wie sie seit Tim Burtons Film mit Johnny Depp (2007) als Ausstattungsbesteck für „Sweeney Todd“ obsolet sind. Da hat Karin Fritz im manchmal von grellen Lichtbahnen durchfurchten Dunkel ganze Arbeit geleistet und – Respekt! – Theaterblut relativ sparsam dosiert. Meistens tröpfeln nur dünne Rinnsale aus von Barbiermessers Schneide versehrten Kehlen und Körpern. Erst im Finale häufen sich – plotbedingt – die Leichen, während der unfreiwillig an der kannibalischen Pastetenproduktion mitwirkende Küchenknabe Tobias (Anne Evans in herb gesungener Hosenrolle) des gnädigen Wahnsinns Beute wird.

Chefregisseur Cusch Jung modellierte in wirkungsvollen Arrangements das Kundenschlachten mit Fleischwolf und Backofen. Die Bettlerin (Julia Lißel) darf Gesäß und Beine räkeln wie im London Westend. Dramatische Knack- und Bruchmomente, wo die Mordmotorik mit dramatischem Vibrieren zur Voraussetzung einer ertragreichen Geschäftsidee wird, stehen mit ausreichender Deutlichkeit im Textbuch und bedürfen keiner weitreichenden Ausführung. Dank Mathias Drechsler sitzen die Einwürfe des Chors, der Freude am geordneten Getümmel und im Tollhaus Wahnsinn als nicht allzu gefährlichen Kontrollverlust zeigt. So weit, so Musical.

Aber durch das hervorragende Ensemble der Musikalischen Komödie werden solche kleine Nachlässigkeiten vollends unbedeutend. Sabine Töpfer artikuliert die naiven Liebes- und Statusambitionen der kannibalischen Pastetenbäckerin Mrs. Lovett mit Kleinmädchenstimme. Sie hat späte Hummeln im Bauch, einen gesunden Emotionenhaushalt und kaputte Knie. Töpfer ist in dieser extrem schwierigen Paraderolle eine Marke mit Ausdruck, gewinnt aus Banalität Rätselhaftigkeit und könnte einem Roman von Charles Dickens entsprungen sein. Michael Raschle als Richter Turpin gibt glaubwürdig den Biedermann mit der Janusköpfigkeit eines priapischen Frauenschänders und Anwandlungen von Selbstkasteiung. Katia Bischoff als Sweeneys Tochter Johanna macht mit hysterisch gezackten Tönen und in den Rufen „Küss mich“ deutlich, dass Frau-Werden unter viktorianischem Tugendterror eine Bürde war.

Alle injizieren sich Sondheims und Hugh Wheelers Herausforderungen als hochwirksame Energiespritze gegen Lockdown-Erschlaffungen: Jeffery Krueger, der als Büttel Bamford beim Musizieren zum Menschen wird – Justus Seeger als kerniger Matrose und Verliebter Anthony Hope – Andreas Rainer als grob posierender Quacksalber Pirelli. Vikrant Subramanian modelliert in der Titelpartie seinen großen Ausbruch, als ginge es um den Schwarzen Korsar oder den fliegenden Holländer. Subramanian überwältigt mit modulationsreicher Stimme, starker Ausstrahlung, Charisma. Er und Töpfer vereinen sich zum seltsam lieblosen Paar, für das die Sympathie des Publikums trotz moralischer Schieflage nicht ausbleibt.

Nach der digitalen Eröffnungspremiere und der ersten Publikumsvorstellung von „Gräfin Mariza“ sind der neue Zuschauerraum und die neue Ton-Anlage der Musikalischen noch fast jungfräulich ungenutzt. Kein Wunder, dass man jetzt mit den neuen Gerätschaften klotzen will. So baute sich die komponierte Gefährlichkeit erst nach der Pause mit dem für „Sweeney Todd“ unerlässlich perfiden Fluidum auf. Die stellenweise geringe Textverständlichkeit lässt sich mit zunehmender Raumerfahrung ebenso beheben wie die tontechnische Verflachung dessen, was das hinter der Spielfläche sitzende Orchester der Musikalischen Komödie und Chefdirigent Stefan Klingele machen und wollen: Erst im zweiten Teil hört man endlich das sich mit der Subtilität eines Psychothrillers in die Gehörgänge fräsende Gemisch der fahlen Saxophon-Farben, der Dissonanz-Reibungen und Sondheims permanent gegen die Harmonieklischees der Gattung geschwungenes Kriegsbeil. Am Ende jauchzen die Groupies und alle Operetten-Connaisseure des Leipziger Westens. Es fällt nicht schwer, Mrs. Lovetts kannibalischer Genussmanufaktur in der Stadt, die ein viktorianisches Picknick im Festkalender stehen hat, den angemessenen Erfolg zu prophezeien.

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