In vielen Arbeiten von Heiner Goebbels spielt die Anziehung abwesender, akusmatischer Stimmen eine wichtige Rolle; ob 1981 auf seiner ersten Single „Berlin Kudamm 12.4.81“ (1981), in der „Chaconne / Kantorloops“ aus „Surrogate Cities“ (1994), in der Performance „Stifters Dinge“ (2007), der Klanginstallation „Genko An“ (2008 ff.) oder in seinen Hörstücken. In „A House of Call“ werden die Stimmen zum ersten Mal zu Protagonisten eines ganzen Konzerts. Das Musikfest Berlin startete mit einem großen Erfolg.
Auf der Suche nach vergangenen Stimmen und deren Wiederklang: Heiner Gobbels (geb. 1952) hatte in den letzten 35 Jahren mit dem Ensemble Modern (Orchestra) das Musiktheater nie in ausschließlich narrativen Sujets, sondern vor allem an performativen Schwellen und in Konzerträumen erobert. Bei der Uraufführung von „A House of Call. My Imaginary Notebook“ landete er gestern Abend in der Berliner Philharmonie einen umjubelten Wurf. Am Ende des 105minütigen Werks mit bewegenden, Fragen evozierenden Stimmen vom Band singen mehrere der über 60 Musiker selbst. Samuel Becketts indirekte Frage „What When Words Gone“ ertönt leise und ganz leise. Indes verklingen Pizzicati und andere weiche Instrumentaltöne. Der stille Chor-Epilog löst die während des Stücks aufsteigenden Stimmungen und macht sie leicht.
Goebbels viersätziges Opus ist monumental und intim, persönlich und reflexiv, emotional und referenziell. Aber Goebbels nimmt von sich und uns Hörern das bleierne Gewicht von verordnender Gedankenschwere, wenn Vimbayi Kaziboni schon bei noch hellem Saal mit eine popartigen Intrada beginnt, während der ein gefühltes Drittel der Musiker erst nach und nach zu ihren Orchesterplätzen trudelt. Kaziboni agiert am Podium vorne rechts und hat damit das Mischpult im Saal gut im Blick. Die Anordnung der Stimmen aus Goebbels’ akustischem Zettelkasten erfolgt in einem elaborierten Musikgebäude. Vor allem beinhaltet es mit Stolz gepolsterte Erinnerungsnischen von Begegnungen mit Heiner Müller, zutiefst berührende Tonkonserven wie Eichendorffs Gedicht „Die Wünschelrute“ aus dem Mund von Goebbels’ fast hundertjähriger Mutter und die Stimme der armenischen Sängerin Zabelle Panosian in einer Aufnahme aus dem Jahr 1917.
Ohne Details der textuellen Konzeptkuppel von James Joyce über Robert Wilson bis Roland Barthes – letzterer nannte die menschliche Stimme einen Ort, der „sich jeder Wissenschaft entzieht“ – erschließt sich das Material Goebbels’ in den vier langen, dabei einer suggestiven Spannungsdramaturgie verpflichteten Sätze auch affektiv. Goebbels verbindet wie in einem musikalischen Roman Musiksphären vom Baustellenlärm bis zum E-Gitarren-Solo. Das Ensemble Modern Orchestra meistert eindrucksvoll Flächen, in denen es richtig loslegen darf und auch die mit Ernst aufgeladenen Soli-Kombinationen. Norbert Ommers Klangregie nivelliert mitunter die Erkennbarkeitsgrenzen physischer und elektronischer Tonproduktion. Goebbels’ Lightshow wäre sogar entbehrlich. Dass seine Musik keine visuellen Spannungsaufheller nötig hat, spricht für die kreative Substanz der Partitur.
Ton, sinnhafter Klang und textbezogen-akustisches Material erzeugen Kaskaden des Staunens und – auch das! - des Genießens. „House of Call“ nannte man am Beginn der industriellen Revolution in England Einrichtungen, wo suchende Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammentrafen und im besten Falle vertragseinig wurden. Der Konzertsaal ist in Goebbels’ Werk ein Forum, wo sich unberührbare Stimmkonserven über das Publikum ergießen und in diesem Glücksgefühle, Fragen, Sehnsüchte auslösen. Das mikrofonierte Orchester und die verstärkten Instrumente begleiten diesen Liederabend der Abwesenden. Goebbels’ Tondokumente sind ver- und überformt zum Silben-Stottern, sie tauchen in Hall und die Stimmen verschwinden hinter vergrößerten Geräuschen.
Der Komponist Goebbels lässt sich vom Denker Goebbels nicht kleinmachen. Dieser Liederabend ohne physisch anwesende Solosänger beinhaltet eine fast anachronistische Spannkraft. Goebbels zwingt koloristisch-spielerische Versatzstücke unter einem großen Bogen, der durch die Mikrostrukturen der 15 Einzelepisoden nicht auseinanderfällt. Das gerät zum Sieg musikalischer Energie und Materialverliebtheiten. Die wegen der Pandemie um ein Jahr verschobene Uraufführung erhielt nach gespannter Aufmerksamkeit lauten, energischen Beifall.
- Heiner Goebbels: A House of Call. My Imaginary Notebook (2020) (UA) am 30.08.21, 20 Uhr, Berlin, Philharmonie Berlin (besuchte Vorstellung) - 06.09.21 20 Uhr, Köln, Kölner Philharmonie - 07.09.21 20 Uhr, Düsseldorf, Tonhalle Düsseldorf - 21.09.21 20 Uhr, Hamburg, Elbphilharmonie - 28./29.09.21 20 Uhr, München, Prinzregententheater - Kompositionsauftrag von Ensemble Modern, Berliner Festspiele/Musikfest Berlin, Kölner Philharmonie, beuys2021, Elbphilharmonie Hamburg, musica viva/Bayerischer Rundfunk, Wien Modern und Casa da Música. Ein Projekt im Rahmen von BTHVN 2020. Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien) - Ensemble Modern Orchestra - Vimbayi Kaziboni, Dirigent - Heiner Goebbels, Lichtregie – Norbert Ommer, Klangregie
- Die Aufzeichnung des Konzerts ist auf Musikfest Berlin on Demand verfügbar bis 10.09.21, 16 Uhr. Das Buch zum Werk erschien im Neofelis Verlag.