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Borusan Music House Istanbul. Foto: Artefakt
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Keine stilistischen Reinheitsgebote

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Das Borusan Music House in Istanbul bringt Neue Musik ans junge Publikum
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Wie vielerorts muss auch in der Türkei die Kultur ohne staatliche Mittel auskommen und ist weitestgehend auf Förderung aus privater Hand angewiesen. Einen wesentlichen Beitrag zum kulturellen Leben in der Metropole Istanbul leistet hier die Borusan Culture and Arts Foundation, eine groß angelegte Stiftung der Borusan Holding, eines türkischen Mischkonzerns, führend in der Herstellung von Stahlrohren, deren Gründer ein großer Liebhaber und Sammler zeitgenössischer Kunst ist.

Dem 1993 gegründeten Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra folgte das Borusan Quartet und bald auch ein Borusan-Förderprogramm, das begabten türkischen Kunst- und Musikstudenten eine exquisite Ausbildung im Ausland ermöglicht. Das jüngste Kind der Stiftung ist das Borusan Music House. Vor zwei Jahren wurde es als Spielstätte für Neue Musik eingeweiht. Seither hat die zeitgenössische Musikwelt Istanbuls ein eigenes Zuhause und tritt von dort aus in den Dialog mit ausländischen Festivals und Institutionen zeitgenössischer Musik. In einem Pilotprojekt fand nun erstmals ein Austausch mit dem Berliner Radialsystem statt.

Ursprünglich sollte das sechsstöckige Stadthaus mitten in der Fußgängerzone des belebten Viertels Beyoglu Spielstätte für Kammermusik klassischen Repertoires werden, erzählt Ahmet Erenli, der Direktor der Borusan Arts and Culture Foundation. Doch praktische Faktoren wie nicht vorhandene Parkmöglichkeiten in der Umgebung habe das illustre Stammpublikum des Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra konsequent vom Kammerkonzertbesuch abgehalten. Also begann man, mit zeitgenössischen Programmen jüngeres Publikum anzusprechen, und das erwies sich als Treffer – zu aller Erstaunen, denn das Interesse an Neuer Musik hält sich selbst im kosmopolitischen Istanbul in denkbar überschaubaren Grenzen. Vor allem bei der Altersklasse 25 bis 35 erfreuen sich die zeitgenössischen Programme des Borusan Music House großer Beliebtheit. Das Stammpublikum ist ein kleiner, aber sehr treuer Kreis, der Standort inmitten des vielfältigen Istanbuler Nachtlebens macht den Besuch im unprätentiösen Music House zu einem ungezwungenen Unterfangen.

Hier stellt sich die Frage, warum genau das, worum man sich hierzulande händeringend bemüht, ausgerechnet am Bosporus so mühelos, ja fast zufällig gelingt. Eine weniger verpflichtende Verwurzelung in der westlichen Musiktradition spielt dabei sicher keine unbedeutende Rolle. Das Mischen der Genres, womit man auch im westlichen Europa junges Publikum für Neue Musik zu gewinnen sucht, scheint hier ohne Berührungsängste zu gelingen. Stilistische Reinheitsgebote werden weder auf Publikums- noch auch Veranstalterseite groß geschrieben. Was Programme und Präsentationsformen seines Hauses angeht, bezieht Yagiz Zaimoglu, der Direktor des Borusan Music House, eine sehr flexible Position: „Wir konzentrieren uns hauptsächlich auf Neue Musik, elektronische Musik und Avantgarde-Jazz. Wir wollen mit neuen Formen experimentieren und sind an der Verbindung von audiovisueller Kunst mit Live-Elektronik und anderen Disziplinen interessiert. Es ist vor allem die experimentelle Komponente, die uns wichtig ist.“

In Berlin indes bemühen sich die Leiter des Radialsystems Jochen Sandig und Folkert Uhde seit einigen Jahren, neue Konzertformen einzuführen und das Publikum aus seiner althergebrachten Konsumentenrolle in eine aktive zu überführen. Solche Vorstöße finden zwar Anklang, doch müssen sie sich stets gegen potente Gralshüter der etablierten Musikkultur durchsetzen. An innovativen Alternativen mangelt es in Berlin gewiss nicht. Zu den Markenzeichen eines Radialsystem Konzerts gehören musikalische Querverbindungen zwischen alt und neu in kurzen, schlaglichthaften Programmsegmenten. Das Gebäude wird in verschiedenen Räumen und Stockwerken simultanbespielt. Das Publikum stellt sich seine präferierte Programmkonstellation aus dem Doppelangebot selbst zusammen. Dass das Borusan Music House die Umsetzung dieses Konzepts faktisch erlaubt, zeigte sich nun beim ersten Radialkonzert in Istanbul mit dem Berliner Ensemble Kaleidoskop; allerdings wirkte die ständige Völkerwanderung durch das schmale offene Treppenhaus eher störend als auflockernd. Zudem ist die Atmosphäre im Borusan Music House ohnehin schon unverkrampft, dass man sich fragt, ob es überhaupt sinnvoll ist, ein auf deutsches Publikum zugeschnittenes, raumspezifisches Konzertformat auf ein türkisches zu übertragen, zumal man es mit völlig unterschiedlichen Grundvoraussetzungen zu tun hat. Derlei komplexe Überlegungen stehen den Austauschpartnern im Verlauf ihrer weiteren Zusammenarbeit noch bevor. Folkert Uhde sieht der Zukunft des Projekts aber mit Zuversicht entgegen: „Wir würden gerne versuchen, als Berliner Radialsystem bei Borusan regelmäßig zu Gast zu sein, Künstler und Konzerte auf die Weise zu präsentieren, wie wir ein Haus eben bespielen. Wir möchten aber auch alles daran setzen, dasselbe in die andere Richtung zu tun, weil uns aufgefallen ist, dass es in Berlin zwar inzwischen natürlich sehr viel gibt unter dem Schlagwort ,postmigrantische Kultur‘, dass aber niemand aktuelle Künstler aus Istanbul in Berlin präsentiert.“

In diesem Punkt könnten sich die Interessen der beiden Partner nicht glücklicher ergänzen, denn Istanbul bietet zwar freies Geleit für Experimente aller Art, doch schaffen es nur die wenigsten türkischen Komponisten und Musiker, in Europa Beachtung zu finden, erklärt Zaimoglu: „Es ist wichtig, dass die Komponisten in Istanbul eine Plattform haben. Aber der zweite Schritt ist dann, sie international zu fördern. Als türkischer Komponist muss man Teil eines Netzwerks sein, man muss sich zeigen, muss andere beeinflussen und von anderen beeinflusst werden. Und da hoffen wir, ihnen helfen zu können, sich auch in Europa zu etablieren.“

Beim Radialsystem-Konzert in Istanbul zeugt schon der Titel „New Sounds of Berlin“ von der Magnetkraft, die die deutsche Hauptstadt auf die internationale Musikwelt ausübt. Dabei weist das Programm weder besonders viel Neues noch besonders viel Berlinisches auf. In kurzen Programmsegmenten treffen Bach, Mozart, Schubert und Ravel auf Schönberg, Gubaidulina, Erwin Schulhoff, Gideon Klein und Ellen Fellmann. Die Gegenwart wird wenig berührt, im Mittelpunkt steht eher das Radialsystem-Signaturformat. Zwar öffnen gewisse kongeniale Nebeneinanderstellungen alter und neuer Werke ungeahnte Verbindungstüren, dass allerdings aus verhackstückten Meisterwerken wenig zu gewinnen ist, erkennt man spätestens, wenn man den langsamen Satz aus Schuberts Streichquintett in C-Dur in einen fremden Kontext transplantiert hört. Das Feuerwerk der Highlights kann eben auch nach hinten losgehen, so dass der ganz große Zauber, dessen Effekt man im Eilverfahren offenlegen wollte, sich in Wohlgefallen auflöst.

Die Angst, man könnte sein Publikum überfordern oder vergraulen, scheint in Berlin präsenter zu sein als in Istanbul, was auf den ersten Blick paradox erscheint. Das mag der schärferen Konkurrenzsituation hierzulande geschuldet sein, wohl aber nicht zuletzt auch der Tatsache, dass das Borusan Music House sich keinem ökonomischen Druck ausgesetzt sieht: „Es ist sehr wichtig, Neue Musik in Istanbul zu fördern, denn es gibt hier viele junge, begabte und ehrgeizige Komponisten, nur Neue Musik ist eben nicht sehr gefragt, darum lässt sie sich nur schlecht verkaufen. Aber weil das Borusan Music House von einer Stiftung getragen wird, kann es sich den Luxus leisten, Neue Musik zu fördern ohne auf den Kartenverkauf achten zu müssen“, erläutert Zaimoglu.

Die ungezwungene und doch konzentrierte Stimmung bei Borusan Music-House-Veranstaltungen verleitet zur hoffnungsvollen Vermutung, dass auch gute Neue Musik, egal wie ungewohnt, ein Publikum überzeugen wird, wenn man sie lässt – und sich das leisten kann. Das hiesige Problem des Publikumsschwunds scheint indes weniger in der Überforderung zu liegen als im Stigma der Bürgerlichkeit, das dem klassischen Konzert anhaftet. Denn ohne diese negativen Assoziationen entfällt offenbar auch der apologetische Eiertanz um den vermeintlich zu hohen Anspruch zeitgenössischer Werke. Aus einem längerfristigen Austausch Istanbul–Berlin ließe sich also potenziell nicht nur eine wertvolle, beidseitige Horizonterweiterung zeitgenössischen Repertoires über die magische Ost-West-Grenze hinaus gewinnen, sondern im besten Fall auch Inspiration zu mehr Mut, weder die Macht guter Musik – ob alt oder neu – noch das Publikum zu unterschätzen.

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