Die Uraufführung war bei den Bregenzer Festspielen 2022. Über Amsterdam gelangte Brigitta Muntendorfs „Melencolia. Eine Show gegen die Gleichgültigkeit des Universums“ beim Festival MaerzMusik am 21. und 22. März 2025 im Haus der Berliner Festspiele zur deutschen Erstaufführung und wandert von dort an die Berliner Lindenoper. Mit einer Vielzahl von Showmitteln aus dem interdisziplinären, spartenübergreifenden Performance-Labor vom Ende des 20. Jahrhunderts und mit aufwändigem Technikequipment wusste die Produktion in der Inszenierung von Moritz Lobeck ein buntes und mehr arriviertes als subversives Publikum 75 Minuten lang zu entertainen. Einhelliger Applaus für alle – auch für Ensemble Modern.

Eine künstlerisch-mediale Breitseite gegen oder für die Nachdenklichkeit? © Berliner Festspiele, Foto: Fabian Schellhorn
Keine Zeit für Weltschmerz? MaerzMusik gibt Muntendorfs „Melencolia“ mit Ensemble Modern
Der früher schlicht Extrachor genannte und von Artur Just geleitete Apollo-Chor ist derzeit performativer Trendsetter der Berliner Opernhäuser. Nach „Ab in den Ring!“, Anna Webers retroteutonisch-utopische Operettenüberschreibung frei nach Oscar Straus für die Tischlerei, brilliert er nur einen knappen Monat später in Brigitta Muntendorfs wort-, ton- und bildreicher „Melencolia“-Exegese äußerst frei nach Albrecht Dürer. Wo der Nürnberger Renaissance-Künstler aber hinter dem weltabgewandten Engel mit feinen Linien und einfarbig auf wenigen Quadratzentimetern ein weites epochales Panorama entfaltete, schafften Muntendorf und Lobeck in sieben Episoden unter reichlicher Anwendung von Visuellen Welten (Veronika Simmering), Klangregie (Felix Dreher), Live-Video (Duo Warped Type), Lichtoperation (Floris Dijkers) sowie Audio-Programmierung mit Live-Elektronik (Lukas Nowok) ein zum technisch aufwändigen, großzügig von kreativen Pausen durchlüftetes Gesamtkunstwerk. Der Applaus verriet, dass Muntendorfs kompositorische Kompetenz und der Kurator Lobeck dem selbstgestellten Fundamentalthema flöckchenleicht ohne bewusstseinsirritierende Schatten beikamen. Man erlebte viel nichtmateriellen Schnäppchenramsch aus der globalen Gemischtwarenhandlung. Die Akkumulation alpenländischer Liedfragmente, Fußballgegröle und Nippes ließen vor allem in den ersten 45 Minuten schmunzeln.
Unmelancholisch zu vergangenen Zukünften
Die Crew aus dem Apollo-Chor sah mit froschgrünen Kleidern aus, als stünde in einer Nostalgie-Staffel der SF-Serie „Mondbasis Alpha I“ gleich ein Opernball an. Das etwas reifere Personal aus dem wie immer musikalisch tadellosen Ensemble Modern trug – Engelsanspielungen durch und durch – Flügelchen und grell blonde Perücken mit multiplen Schnittformen (Ausstattung: Sita Messer). Damit erweist sich der performativ-zivilisatorische Fortschritt seit Dürer vor allem im Genre Karikatur als enorm. Auf der Bühne blieb zwischen den instrumentalen Aufbauten viel Platz zum Durchblick auf die imponierende Fülle von Video-Emanationen. Muntendorfs Sounds zur sich ultimativ progressiv gebenden Melencolia-Show werden auf Vinyl und nicht als Silberscheibchen vertrieben. Mehr Retro-Trend-„confusion“ geht nicht.

„Zukünfte komponieren“ bedeutete in dieser Eröffnung von MaerzMusik das Hausstaubwölkchen aufwirbelnde Stöbern in der Vergangenheit. © Berliner Festspiele, Foto: Fabian Schellhorn
Musikalisch agiert Muntendorf, nach ihren attraktiven elektroakustischen Techno- und Elektro-Inlays zu Verdis „La traviata“ am Deutschen Nationaltheater Weimar, in „Melencolia“ mit beachtlicher Mix-Bandbreite. Auf ihrer Klangbühne bedient sie sich gern der Hypnosestrategien digitaler Algorithmen. Wenn sie darauf aus gewesen sein sollte, jene die äußere Welt abwehrenden Stimmungen von Vergänglichkeit und Schmerzlichkeit, die man als Krankheit oder seit dem 19. Jahrhundert als Gefühl der Melancholie definierte, zu überwinden, dann ist ihr diese Ent-Metaphysikisierung perfekt gelungen.
Ruhelos zwingende Unterhaltung
Muntendorf arbeitet wie eine perfekte Influencerin im Glauben an die Massengewalt sinnlicher Reize. Lobeck setzt im konzeptionellen Gleichklang auf semantische Durchlauferhitzungen mit hohen Streuverlusten. Es versteht sich, dass satztechnische Kompositionsbögen mit einer Dauer von länger als 15 Sekunden so gut wie nicht vorkommen und das gesamte kollektive Soundgedächtnis mehrerer Generationen zur Anwendung gelangen. Aus paritätischen Gründen gab es mit dem Auftreten des Ney-Anbān Virtuosen Saeid Shanbehzadeh auch Beträge aus der Eine-Welt-Musik. Eine Mitwirkende erschien als asiatische Karaoke-Interpretin und intonierte Chansonartiges. Drei Bildschirme waren gerade genug, transformierten Physisches in Gefilmtes und umgekehrt. Zum Schluss gab es auf der Leinwand einen Embryo-Avatar in Pink mit gertensteifer Nabelschnur. Etwas früher raunten Stimmen in mehreren Sprachpartikeln sinnverheißend: „Woher kommst du –––“. Aus Muntendorfs Arrangements prunkten auch Motivfetzen von Wagner und Beethoven. Gegen Melancholie wirkt diese Performance wie ein knatterbunter Videokanal gegen Anflüge von widerborstigem Verdruss. Witzelnde Ablenkung ohne aktive und schon gar nicht auf Nachhaltigkeit kalkulierte Symptombekämpfung.
Das volle Haus der Berliner Festspiele applaudierte mit routiniertem Eifer. Bei Hinausgehen meinte eine Frau mit südwestlichem Dialekt zu ihrem Partner, am Ende habe sie sich doch etwas melancholisch gefühlt. Konzeptionelles Ziel erreicht – oder das Gegenteil? „Zukünfte komponieren“ bedeutete in dieser Eröffnung von MaerzMusik das Hausstaubwölkchen aufwirbelnde Stöbern in der Vergangenheit. Der Rest ist haptische Resteverwertung mit digitalem Grauschleier.
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