Die Unmissverständlichkeit, um was es im lyrischen Märchen „Rusalka“ von Antonín Dvořák gehen sollte, war in der Aufführung an der Staatsoper Hannover vom ersten Klang, vom ersten Blick auf das Bühnenbild und vom ersten Auftritt der Titelfigur „Rusalka“ an glasklar. Acht Jahre nach der Inszenierung von Dietrich Hilsdorf, der diese Oper des tschechischen Komponisten in einer Leichensezierungshalle spielen ließ und damit so einige Rezeptionsrätsel aufgab, ging es der türkisch-stämmigen, mehrfach preisgekrönten Regisseurin Tatjana Gürbaca um eine Frau, die an der Sehnsucht nach einer anderen Welt und der nach Liebe gründlich scheitert.
In Hans Christian Andersens Märchen verliebt sich eine Nixe in einen badenden Prinzen. In der tschechischen Variante des weltweiten Undinen-Themas wird sie mit Hilfe der Hexe Jezybaba zwar zu einem Menschen, bezahlt aber die blutreiche Verwandlung ihrer Fischflossen in Beine mit dem Verlust ihrer Stimme. Zwar heiratet der Prinz sie, aber Rusalka findet aufgrund ihrer doppeldeutigen Sprachlosigkeit weder zu einer Beziehung noch zu einem Zugang zum Prinzen und der fremden Gesellschaft. Und das sind nichts weniger als zwei große politische Themen unserer Zeit. Denn wir sehen nicht nur Rusalkas erschütternde Sehnsucht nach einem Anders-Sein, wir sehen auch den Druck der Herkunftsfamilie durch den Wassermann, Rusalkas Vater, und ihren Schwestern. Wir sehen nicht nur das Scheitern einer persönlichen Liebe, wir sehen die scheinbar unüberwindliche Sprachlosigkeit zwischen Mann und Frau.
Für diese überzeugende Sicht hilft Gürbaca die großartige Musik Dvořáks, die zu Recht als die bis dahin größte tschechische Oper angesehen werden kann (jedenfalls vor Leoš Janačék): mit ihren Leitmotiven an Wagner geschult, mit ihrer Verwurzelung im tschechischen Volkslied, mit ihrer berückend sensiblen Gestaltung einer charakteristischen Aura wie der erste Auftritt der Rusalka (über zarter Bassgrundierung gibt es einen Streicherschleier, zu dem sich terz- und sextgesättigte Melodien zweier Klarinetten gesellen). Gleichzeitig kann Dvořák kraftvoll und geradezu deftig zulangen, wie es das Niedersächsische Staatsorchester unter der enorm zupackenden – wie Hammerschläge zum Inhalt als auch zarteste Atmosphären - und farbenreichen Leitung von Stephan Zilias zeigte. Und der Regisseurin hilft die für diese Sicht ungemein geschickt gebaute Bühne (Klaus Grünberg): die großen, vom Wasser gerundeten Steine und Fenster in der Decke zum Licht, zur Welt nach oben.
Gürbaca führte nun die Hannoveraner Neuinszenierung zu einem bejubelten Ereignis, indem sie sich, neben dem Aspekt der Unerreichbarkeit von Liebe, dem der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Familie ganz besonders konzentriert. Dabei hat sie der Musik gut zugehört und aus der dauernden Verschränkung der Motive des Wassermannes, der immer dazwischenfunkt und dem Motiv des Mondes, der tröstet, Rusalkas Geschichte des Erwachsenwerdens und der Emanzipation ihre eindringliche Interpretation gebaut. Rusalka setzt auf der Suche nach einem eigenen sinnerfüllten Leben ihren Willen durch: die Australierin Kiandra Howarth findet sowohl stimmlich – ständig zwischen lyrisch und hochdramatisch - als auch darstellerisch eine überwältigende Fülle von Nuancen für ihre Sehnsucht und ihren Willen, ihre Wut ihre seelische Not. Es ist nichts weniger als ein Zauber, wie Howarth die Liebe sich annähern und auch blühen lässt. Einer der Höhepunkte ist ihr stummer Schrei während des polternden oberflächlichen Festes am Hof des Prinzen, nur im Orchester ausgedrückt. Großartige Parodie der feinen Gesellschaft gelingt in der berühmten Polonaise, verloren darin dann aggressiv randalierend die hilflos in einem rosa Kleidchen „kostümierte“ Rusalka, fassungslos ob des verachtenden Benehmens ihres Prinzen, der in ihr ein Reh sieht.
Gerald Schneider als leidenschaftlicher Prinz, Magdalena Anna Hoffmann als eiskalte Rivalin, Monika Walerowicz als zwielichtige Hexe und Shavleg Armasi als ebenso warmherziger wie auch patriarchal mächtiger Wassermann-Vater ergänzten das verkorkste Leben der Rusalka aufs Beste und machten den Weg offen für das Gürbaca-Ende: nicht Rusalka hat alles verloren und muss zurück in ihre Welt, sondern ihr Weg ist offen für einen ganz anderen, vielleicht wirklich ihren Weg, der von keiner Zugehörigkeit und keiner Rücksicht mehr geprägt ist. Ein großer Abend, der eine Reise, nein, zwei verdient hat.
- Weitere Aufführungen: 24.3., 14.4., 27.4. 19.5. und 27.5. um 19.30; 26.3., und 14.5. um 18.30 und 23.4. und 1.5. um 16.00.