Ziemlich still ist es geworden um das Werk des 2012 in Dresden verstorbenen deutschen Tonsetzers Hans Werner Henze. Doch das ist ein fast ‚natürlicher‘ Vorgang: Seit den goldenen Wirtschaftswunderjahren Henzes kämpfen drei neue Komponisten-Generationen um mediale Aufmerksamkeit. Das Theater an der Wien hat sich jetzt an die „Elegie für junge Liebende“ erinnert.
Die Oper handelt von einem (imaginären) österreichischen Großschriftsteller, der von Kopf bis Fuß auf Weltruhm eingestellt ist – durchaus abgründig und ironisch. Keith Warner hat das zur Farce tendierende Kammerspiel nun im Theater an der Wien mit Wucht inszeniert, Marc Albrecht dirigierte die auf zwei Dutzend Musiker reduzierten Wiener Sinfoniker – mit delikater Eleganz.
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Im Mittelpunkt des 1961 in Schwetzingen uraufgeführten Konversationsstücks „Elegie für junge Liebende“ steht der alternde Dichterfürst Mittenhofer. Allemal im Sommer hält er Hof im distinguierten Berghotel „Schwarzer Adler“ gegenüber dem symbolträchtigen Hammerhorn. Das Dorffaktotum Hilda, dessen Bräutigam vierzig Jahre zuvor von einer Klettertour zum Edelweiß nicht zurückkam, liefert ihm Visionen und Inspirationen. Gräfin Kirchstetten organisiert dem Poeten den Tagesablauf und die Geschäfte; die junge Geliebte Elisabeth steht nachts zur Verfügung und über die Gesundheit wacht Leibarzt Dr. Reischmann. Dessen plötzlich auftauchender Sohn Toni verliebt sich postwendend in Elisabeth. Die beiden wollen flüchten. Doch sie kommt nicht so schnell vom Großkünstler los. Der Poet veranlasst sie aber, noch einen Tag zu bleiben und ihm ein inspirierendes Edelweiß vom Berg zu holen. So schafft er eine Versuchsanordnung, die dann in Kombination mit unterlassener Hilfeleistung nach einem Wettersturz zum Erfrieren der jungen Liebenden führt. Über diesen Bergtod schreibt Mittenhofer eine Elegie – sein nächstes Erfolgsstück.
Diese ‚Künstleroper‘ ist Kunst über Kunst. Sie handelt vor allem von der Entstehung eines bedeutungsschweren Gedichts – allerdings mit heiter-boshaften Seitenblicken. Der Plot schöpft aus bürgerlich-realistischem Fundus, trägt ausgesprochen veristische Züge. In ihm kreisen alle singenden Personen wie Planeten um eine Sonne – um den Künstler, der sich rücksichtslos selbstverwirklicht. Die Librettisten Wystan Hugh Auden und Chester Kalman schöpften aus verschiedenen Quellen – aus E.Th.A. Hoffmanns „Die Bergwerke von Falun“, der Kalendergeschichte „Unverhofftes Widersehen“ des alemannischen Dichters Johann Peter Hebel und dem Falun-Drama Hugo von Hofmannsthals. Dieser Wortkünstler mit notorischen Schaffenskrisen spielt, ebenso wie Thomas Mann, auch des Weiteren im Libretto als Projektionsfigur der Satire eine gewisse Rolle.
Mit der Partie der ‚ewig‘ wartenden Hilda Mack, die hörbar eine Macke hat, parodierte Henze die ihm verhasste serielle Schreibweise der Darmstädter Schule (scharfe Dissonanzen, große Sprünge). Die Koloratursopranistin Laura Aikin outriert drastisch bei dieser Parodie. Fast zu sympathisch gerät die Darstellung Mittenhofers durch Johan Reuter: Die hemmungslose Selbstverwirklichung und die zynische Knechtung der Frauen im Umfeld dieses Machtmenschen erscheint durch sensibles Zuhören und Befähigung zu taktischer Selbstkritik kaschiert. Der dänische Bassbariton charakterisiert das souveräne Charakterschwein, nicht immer ganz messerscharf intonierend, mit vorzüglicher Detailzeichnung als Frauenversteher – mit dem Gestus: „Die wollen es doch so haben“. Marc Albrecht ist bei der passgenauen Begleitung der Sänger mit sichtlichem Vergnügen bei der Arbeit und tänzelt den Wiener Sinfonikern die zitatgenährte und immer wieder persiflierende Montage-Musik vor. Geschmeidig, punktgenau, funkelnd, eloquent. Ja, es ist nun einmal ein Konversationsstück …
Eine riesige weiße Schreibtischlampe dominiert zunächst die Bühne. Doch die füllt sich rasch mit weiteren Groß-Symbolen, die allesamt weiß sind wie der Schnee, in dem die jungen Liebenden am Ende unter hoffnungsfrohem Gesang das Zeitliche segnen. Zur Erinnerung der Witwe Mack über ihr kurzes erotisch-sexuelles Glück taucht ein überdimensionaler männlicher Gips-Torso mit abgebröckeltem Geschlechtsorgan auf. Dichter Mittenhofer und seine Vielzwecksekretärin tummeln sich in einer zwanzigfach vergrößerten Schreibmaschine, einem stark ruinierten und ebenfalls blütenweißen Kunstobjekt, das an elaborierte Zuckerbäckerei erinnert. All diese Symbole sind von erschütternder Direktheit und Banalität, zugeschnitten auf den geistigen Horizont von Fünfjährigen. Auch der Bücherberg, der sich auf die Bühne drängt, ist im überzeichnenden Maßstab gehalten. Ebenso der Kunstkopf, aus dem der Bergführer vom Fund des frisch und jung gebliebenen Herrn Mack am Fuß des Gletschers berichtet und aus dem später die Liebenden ihre nicht ganz unangefochtene Inbrunst singen. Durch all diese Bühnenbauten ist die Spielfläche so proppenvoll, dass mit rasch übergezogenen weißen Leintüchern sich ein veritables verschneites Hochgebirge ergibt.
Der Regisseur Keith Warner hat mit schnörkellos direkter Erzählweise auf Henzes subtile Ironisierung großkünstlerischer Selbstgefälligkeit und eleganter Intriganz zugegriffen. Der eisige Tod wurde in glänzend ausgeleuchteten Theaterkitsch gewendet – unter Zuhilfenahme von Video-Einblendungen eines Hochwalds. Die Erörterung der „letzten Fragen“ in innigster Zweisamkeit hebt ähnlich in beschönigende höhere Regionen ab wie der Erstickungstod von Radames und Aida bei Giuseppe Verdi. In dieser theatralen Ambivalenz bleibt das erotisch-sexuelle Schwanken der scheinheiligen Elisabeth ein Lichtblick. Anna Lucia Richter erscheint als bipolar liebende junge Frau die vokale Anmut in Person.