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Ketten ins Unsichtbare

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Lutoslawski-Wochenende in London
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Wie schon in den beiden vergangenen Jahren mit Paul Hindemith und Charles Ives widmete sich die British Broadcasting Corporation in Zusammenarbeit mit der London Sinfonietta und namhaften Solisten ein dichtgedrängtes Wochenende lang im Londoner Barbican Centre einem Komponisten, der der Musik unseres Jahrhunderts entscheidende Impulse verliehen hat. Unter dem Titel „Breaking Chains“ galten vom 17. bis 19. Januar sechs hochkarätige Konzerte, Vorträge und Filme, sowie kostenlose Kammermusik im Foyer dem Polen Witold Lutoslawski. Dieses Konzentrat fand in einem vorausgegangenen viertägigen, von der Guildhall School of Music and Drama veranstalteten Symposium aus Konzerten, Referaten, Workshops und Podiumsdiskussionen seine Ergänzung. Lutoslawski war ein häufiger Gast der in den Barbicankomplex miteinbezogenen Guildhall School, was sich in dem seit sechs Jahren hier vergebenen Lutoslawskipreis für Komposition widerspiegelt. Sahen sich die unterschiedlichen Redner, darunter der Autor Bernard Jacobson und Adrian Thomas, Professor für Musik an der Universität Cardif, statt einer kritischen Bestandsaufnahme ausschließlich schwelgenden Hymnen verpflichtet, was begründbaren Verdacht erregte, so bot die mit über 60 Werken nahezu vollständige Retrospektive die einzigartige Gelegenheit, sich sein eigenes Bild von einem Komponisten zu formen. Das übergeordnete Motto „Breaking Chains“ leitete sich vorrangig aus jenem Kompositionsstil der 80er Jahre ab, dem wir die Werke „Chain I, II und III“ verdanken. Lutoslawski verstand unter Chain (Kette) laut Andrew Clements, dem Autor des vorbildlichen und reich bebilderten Programmbuchs, „eine musikalische Form, die aus zwei parallelen und strukturell unabhängigen Strängen besteht, deren Anfang und Ende nicht synchron verlaufen, die sich jedoch gegenseitig beeinflussen und auf diese Weise eine musikalische Dialektik formieren.“ „Chain III“(1986) und die drei Kompositionen „Partita“(1984, orch. 1988), „Interlude“(1989) und „Chain II“(1984-85), von Lutoslawski in dieser Reihenfolge als ein Tryptichon, ein gewaltiges, von einem Orchesterzwischenspiel unterbrochenes Violinkonzert verstanden, bildeten mit der Solistin Antje Weithass und dem BBC Symphony Orchestra unter Andrew Davis einen ersten Höhepunkt. Hier bestätigte sich Lutoslawski als ein Meister jener 1960 durch das Klavierkonzert von John Cage inspirierten Aleatorik im Gegenüber von ad libitum und a battuta. Hier verwirklichte sich aber auch ebenso wie in seinem Streichquartett, dem das Brindisi String Quartet in der nahen Kirche St Giles, Cripplegate, zu Gültigkeit verhalf, sein Ausspruch „in der Musik darf es keine gleichgültigen Klänge geben.“ „Breaking Chains“ ließ sich allerdings auch anderweitig deuten, nämlich Ketten zu brechen, hinter denen sich Widersprüche verbergen. Zu ihnen zählte u.a. das wohl unumgängliche „Konzert für Orchester“ (1950-54) als Abschluß des ersten Abends. Bedenkt man, daß Andrzej Panufnik und Witold Lutoslawski nicht nur gemeinsam studierten, sondern auch während der Nazibesetzung Warschaus gemeinsam im Untergrund musizierten, bedenkt man weiter, daß Panufnik („Du bist der einzige Komponist, den ich zu fürchten habe“, so Lutoslawski) 1954 der stalinistischen Kulturdiktatur durch seine Flucht den Rücken kehrte, während Lutoslawski aushielt und sich nach eigenem Bekunden kompositorisch nicht dem Diktat unterordnete, sondern in einer beinahe naiv anmutenden Verfeinerung der polnischen Volksmusik sein Heil suchte, so fällt es schwer, dieses flache, bombastische Werk nicht als eine konformistische Konzession zu bezeichnen. Am 14. Juli 1954 hatte sich Panufnik in den Westen abgesetzt; schon am 26. November wurde Lutoslawski mit der Uraufführung des Konzerts für Orchester als Polens führender Komponist bezeichnet. Wenige Jahre nach dem Tod beider Komponisten Lutoslawski gegen Panufnik auszuspielen, wie dies Bernard Jacobsen in seinem Referat für richtig hielt, mußte in der Wahlheimat Panufniks als Fauxpas empfunden werden. Dessen beseeltes, tiefschürfendes und so ureigenes Oeuvre ist aus Gründen der Emigration leider international noch kaum hinlänglich bekannt, während Lutoslawski es geschickt verstand, sich im Osten wie im Westen gebührend in Szene zu setzen. So komponierte er, nachdem seine erste Symphonie 1949 als formalistisch abgelehnt wurde, reichlich für den polnischen Rundfunk, darunter Lieder für Soldaten oder die Masse u.a. auch unter dem Pseudonym ‚Derwid‘ - Musik, die er selbst zwar nicht als konform betrachtete, deren drittrangiger Wert aber seine Position festigte. Die Soundtracks zu den beiden jeweils rund halbstündigen Stummfilmen „Suita Warszawska“ 1946 (Warschau-Suite) und „Odra do Baltyku“ 1945 bestätigten, daß Lutoslawski auch nationalem Pomp durchaus zu entsprechen vermochte. Immerhin erlaubte ihm der staatlich anerkannte Erfolg des Konzerts für Orchester erste Auslandsreisen und in der Konfrontation mit der westlichen Avantgarde die Basis, zu sich selbst zu finden. Mit „Musique funèbre pour Orchestra á cordes á la memoire de Béla Bartók“(1958) beginnt die eigentliche Entwicklung eines Komponisten, der immer auch Klassizist blieb. Dies bestätigte vorrangig der auch interpretatorisch gewichtigste Abend mit dem BBC National Orchestra of Wales unter seinem dynamischen, jungen Chefdirgenten Mark Wigglesworth. Dessen pulsierende Interpretationen der „Musique funèbre“, des Klavierkonzerts (Martin Roscoe), des 1990 anläßlich der Londoner PROMS uraufgeführten Liedzyklus „Chantefleurs et Chantefables“ mit der Sopranistin Valdine Anderson und der 4. Symphonie bildeten den unangefochtenen Höhepunkt. 1988 äußerte Lutoslawski in einem Interview: „Es scheint mir, daß die Musik gerade zu den Künsten gehört, die nicht dem sichtbaren Universum Gerechtigkeit erweisen sondern eher etwas übermitteln sollen von der unsichtbaren Welt der Welt unserer Wünsche, unserer Träume, einer idealen Welt, der Welt also, nach der wir uns sehnen. “ Dieses Zitat verwirklichte sich in Londons Barbican Centre selbst dann noch, wenn sich hinter gewissen Werken der vom ad libitum geprägten Periode ein wenngleich ehrliches, so doch nicht immer überzeugendes Rezept zu verbergen schien.

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