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Keulen in der Kuschelecke

Untertitel
Das Festvial „Wien modern“ stöbert „An den Rändern Europas“
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Peinigende Schreie oder reinigendes Ritual? Mit regelrechten Bocksgesängen verwandelten fünf in Felle gekleidete Performer das Wiener Konzerthaus in den Schauplatz eines archaischen Mysterienspiels. Rauschhafte dionysische Orgien dienen als antikes Vorbild einer multimedialen Performance Jani Christous, die der 1970 bei einem Autounfall ums Leben gekommene griechische Komponist zwei Jahre vor seinem Tod entworfen hatte.

„Epicycle“, zur spektakulären Eröffnung des Festivals „Wien modern“ gespielt, besteht nur aus einem einzigen, gezeichneten Partiturblatt. Kein geschlossenes Stück, sondern ein aus mehreren Werken zusammenzusetzendes Event, dessen Gestaltung dem Interpreten überlassen bleibt. Dirigent Rupert Huber entschloß sich für flächige Kompositionen, wie John Cages „Seventy-four“, ein vom Jeunesse-Orchester Wien gespielter, schillernder Klangkristall. Mit Jani Christou stand eine schillernde Figur der sechziger Jahre zu Beginn im Brennpunkt des elften Festivals „Wien modern“, das diesmal den bekannten Strom mitteleuropäischen Musizierens verließ: Unbekannte Seitenarme, die – wie das Motto besagte – „An den Rändern Europas“ mäandern , wurden diesmal in fünf Wochen verfolgt. Hinter der etwas unglücklichen Formulierung des Festivalthemas verbirgt sich der Versuch, in medial wenig präsenten europäischen Regionen nach musikalisch Substantiellem zu stöbern. Stark vertreten war neben Spanien und Rumänien die derzeit boomende skandinavische Komponistenszene. Im Sog renommierter Dirigenten wie Esa-Pekka Salonen oder Jukka-Pekka Saraste ist nämlich eine Reihe von Komponisten bekannt geworden, die das alte Bild vom musikalischen Brachland des Nordens korrigieren. Neben Anders Eliasson und Karin Rehnqvist aus Schweden, deren kontrastreiche Kompositionen vom Ostbottnischen Kammerorchester unter Juha Kangas interpretiert wurden, beeindruckten vor allem die Werke von Magnus Lindberg. Seinen Ruf als rhythmisch-packender und zugleich klangsinnlicher Komponist konnte der vierzigjährige Finne am Pariser IRCAM begründen, wo auch eines seiner jüngsten Werke entstand: „Related rocks“, ein mitreißender Dialog für zwei Klaviere, zwei Schlagzeuge und Live-Elektronik, furios gespielt vom Amsterdamer Asko Ensemble. Andere Töne schlägt eine tiefgläubige Esoterikerin an: Galina Ustwolskaja, eine erstmals bei „Wien modern“ vorgestellte, einstige Schülerin von Schostakowitsch, meißelt mit unerbittlicher Härte musikalische Zeichen unserer Zeit. Neben keulenartigen Schlägen bergen die meisten der sonst so reduktionistisch-brutalen Stücke der scheuen Sankt Petersburgerin jedoch auch Passagen von größter Zartheit, in denen noch einmal die Utopie eines friedvolleren Lebens beschworen wird. Religiöse Gefühle vermitteln zweifellos auch Ustwolskajas Kompositionen, aber mit welch ungleich größerem Ernst, mit welch ungleich größerer Abgründigkeit formuliert die 79jährige Künstlerin ihre geradezu verzweifelte Gläubigkeit im Gegensatz zu den smarten Komponisten der kuscheligen Esoterikwelle! Vor allem ein von seltener Spannung durchsetztes Konzert mit dem famosen Amsterdamer Schönberg Ensemble unter Reinbert de Leeuw ließ diesen bedingungslosen Anspruch auf humaneres Leben verspüren: Das schlicht mit „Komposition Nr. 1, 2 und 3“ betitelte Triptychon religiöser Ensemble-stücke aus den Jahren 1970 bis 1975 verweigert sich herkömmlicher Etikettierung allein durch die Wahl der Besetzung: Piccoloflöte, Tuba und Klavier sind in der mit „Dona nobis pacem“ untertitelten „Komposition Nr. l“ miteinander zusammengespannt, acht Kontrabässe, ein Klavier und ein auf einen mächtigen Holzblock reduziertes Schlagzeug hämmern im Mittelteil ein brachiales „Dies irae“. In einem Konzert des RSO Wien unter Dennis Russell Davies zeigte sich wiederum, warum Ustwolskajas existentialistisch aufgeladener Reduktionismus ähnlichen Versuchen weit überlegen ist: Neben diesem von tiefen Streichern und Blechbläsern dominierten „Jesus, Messias, errette uns!“ verblaßt Gija Kantschelis Sechste Symphonie zur folkloristischen Platitüde.

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