Es ist Zeit, die Stimme zu erheben. Natürlich hat es sie immer gegeben, als Bestandteil alter wie neuer Musik, man denke nur an die unendlichen Spielarten des Musiktheaters. Doch die Stimme in den Fokus eines Festivals zu stellen heißt, nach Ursprüngen zu fragen, nach Sinnlichkeit und Körperlichkeit, Persönlichkeit und Konkretion. Gerade in der Nachkriegsavantgarde war das nicht unbedingt angesagt, die mit der Abstraktheit des Tons der Traditionsbelastung ihres Materials entgegenwirken wollte. Sie entwickelte zudem eine instrumentale Virtuosität, die über die Grenzen des jeweiligen Instruments hinausstrebte, sogar seine Zerstörung einbezog – der Stimme, so schien es, waren solche Extrempositionen nicht zugänglich. Mehr als jede andere Klangquelle schien sie der Tradition verhaftet, noch dazu an verstaubte Texte gekettet. Sie zu befreien war schon eine ganz besondere Tat, die zunächst der elektronischen Verfremdung gelang. Dieter Schnebel wurde dann in den Siebziger Jahren zum Pionier der experimentellen Stimmbehandlung.
Das ganze Spektrum stimmlicher Möglichkeiten wollten Rainer Pöllmann von Deutschlandradio Kultur und Andreas Göbel vom kulturradio des rbb beim diesjährigen Ultraschall-Festival entfalten. Nach Ansicht der Programm-Macher umfasst das alle Laute schlechthin, die Stimmbänder, Atemapparat, Mundhöhle, Zunge und Lippen überhaupt hervorbringen können, Sprache als Bedeutungsträger wie scheinbar sinnfreies Lautmaterial, traditionellen Schöngesang wie seine modernen Ausprägungen, die meistens auch den Textzusammenhang antasten. Darüber hinaus sehen sie „Stimme“ aber auch in ihrer politischen Dimension, als Einspruchsmöglichkeit und Protest – was sich als „Stimmabgabe“ an der Wahlurne vielleicht in sein Gegenteil verkehrt. Die Tatsache, dass jede menschliche Lautäußerung durch Herkunft und kulturellen Hintergrund geprägt ist, gab dem Thema Stimme in der derzeitigen Situation von Vertreibung und Exil besondere Aktualität.
Das Potential des Politischen, das sich da auftat und Erwartungen schürte, wurde jedoch in seiner expliziten Form nur eingeschränkt genutzt. Vorsichtig näherte man sich dem Thema an. Im Eröffnungskonzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin gab es zunächst Instrumentales: das äußerst sensibel ausgehörte „Klang Werk 11“ von Erhard Großkopf, dessen streng gefasste Zeitproportionen spürbar räumliche Effekte hervorbringen, und das im Gegenzug konzeptionell und klanglich überfrachtete Cellokonzert „story teller“ von dem das Orchester auch dirigierenden Johannes Kalitzke, mit dem unermüdlich agierenden Solisten Johannes Moser, den das Orchester meist übertönte. Dass Mauricio Kagel in seinem „Interview avec D. pour Monsieur Croche et Orchestre“ vor allem Unverständnis zwischen den Ebenen Sprache und Musik vermitteln wollte, war als skeptischer Einstieg eine hübsche Idee. Tatsächlich „reden“ die von Gerd Wameling vorgetragenen rebellischen Sentenzen aus Debussys „Monsieur Croche antidilettante“ und ein Orchesterpart, der am Klangidiom des Franzosen haarscharf vorbeischrappt – eine Art verdrehtes „La Mer“ – aneinander vorbei; kaum lässt sich hier ein Bezug ausmachen, als Werkeindruck unbefriedigend. So ließ sich als erste Begegnung mit der Stimme der Auftritt des Schweizer Stimmakrobaten Mischa Käser verzeichnen, der alle Möglichkeiten des Glucksens, Schnalzens, Grunzens Pfeifens etcetera quasi als Klangkatalog vor dem staunenden Publikum ausbreitete. Countertenor Daniel Gloger füllte dies inhaltlich mit einer eigenen Bearbeitung von Lucia Ronchettis Monodram „Albertine“. Was er an differenzierten Nuancen zum Thema Liebesobsession (nach Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) auszubreiten hatte, vor allem im selbstquälerischen Herz-Schmerz-Genuss, in versteckter, verschämt vorgezeigter Erotik, das war große Psychologie und Stimmkunst in einem. Die Neuen Vocalsolisten, denen Gloger angehört, brillierten sowohl mit dem eher konventionellen, wenngleich raffiniert ausgeleuchteten Schöngesang der „Voyage“ des Amerikaners Benjamin Sabey als auch in den knarzenden Basslauten von Carola Bauckholts „Stroh“, das nach Worten der Komponistin „die Unterseite des Gesangs“ zuoberst kehrt, auch in allen hier vergnüglich ausgebreiteten verbotenen und unanständigen Lauten – Aspekte, die Georg Friedrich Haas’ „Vier Liebesgedichte“ in obertonseligem Schwirren vereinigen. Die hochvirtuosen sechs Sängerinnen und Sänger nahmen sich auch eines der beiden „politisch“ zu verstehenden Beiträge an: „Pazific Exil“ nennt Sergej Newski „Fünf konzertante Szenen“ für Stimmen und Live-Elektronik ( des Techno-Musikers Paul Frick): eine Zusammenkunft des Ehepaars Mahler Werfel und der Mann-Brüder mit Bertolt Brecht und Arnold Schönberg in Lion Feuchtwangers Villa Aurora im kalifornischen Exil, die sich sehr konkret – Papierrascheln der Akten! Schreibmaschinenklappern! – mit den bürokratischen Aspekten der Ausreise und der Fremdheit des Exils auseinandersetzt, mit einer Kargheit elektronisch verzerrter Sprach-und Stimmlaute, die der Situation von Verlust und „Enteignung“ im wahrsten Sinne entspricht.
Stimme der Musik
Politisch gab sich auch der Abend des jungen Vokalensembles Phønix16: „Balkanroute“ war ein Programm mit Musik aus der Türkei, Griechenland, Serbien, Kroatien und Slowenien überschrieben, nicht als „klingender Kommentar zu den politischen Ereignissen“ der letzten zwei Jahre, wie Ensembleleiter Timo Kreuser meinte, sondern eher als Beispiel verlorener Möglichkeiten, die es vor diesen Verwerfungen gab, in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Elektronische Werke von Ílhan Mimaroglu, Radan Radovanovic und Ivo Malec aus Studios in Belgrad, Warschau und Budapest – wobei der letzte Schliff auch mal vom IRCAM Paris kommen konnte – verblüffen durch Klangfantasie und vitale Erfindung in oft rauherem technischen Gewand, reizvoll gegenüber viel glatteren heutigen Produktionen. Vokalkompositionen von Iannis Xenakis, Ivo Malec und Branimir Sakac wirken in der Kraft von zwölf Stimmen fast körperlich bedrängend – Xenakis setzt sich explizit mit Folter und Diktatur auseinander – und klingen zugleich nach osteuropäischem Marktplatz, nach lebenslustigem Kräftemessen und Widerstandsgeist. Immer wieder treten individuelle Stimmfarben aus dem Kollektiv hervor. Sie münden in Vinko Globokars „Airs de voyage vers l’interieur“ von 1978, die sich mit Klarinette und Posaune in stärkerer Geräuschhaftigkeit vereinen und einen veritablen Rundtanz heraufbeschwören – im Publikum, nicht auf der Bühne. „Inwendige Reiselieder“ kann man wahrhaftig wieder gebrauchen, gegen die innere Angst. Ein „stimmiges“ Programm, das unbegreiflicherweise Mut machte.
Stimmbrüche
Das Komponieren für Stimme, so sehr es legitimerweise zu Ursprüngen zurückkehrt und Traditionen neu lesen möchte, kann auch darin steckenbleiben. Im Konzert des ensemble recherche, dem die Neuen Vocalsolisten drei Sängerinnen beisteuerten, beließ Karin Rehnqvist mit „Jag lyfter mina händer“ (Ich erhebe meine Hände) mit Stimme und Klarinette die Kehl- und Gurgellaute schwedischer Hirtenlockrufe allzu unbehauen – viel innovativer da Lotta Wennäkoski in der alten Gattung Klaviertrio.
Sebastian Claren ging in „Schlachten 2“ für drei Frauenstimmen, Bassklarinette, Schlagzeug und Streichtrio den umgekehrten Weg: Was in bestimmten formalen Konstellationen als „Motette“ mit dem Inhalt der Klage einer Mutter und ihrer Töchter über „die Tyrannei des Familienvaters“ angelegt ist, entpuppt sich als überdimensionales, lautlich reduziertes Liniengewirr, in dem auch das „auskomponierte Vibrato“ keine Ausdruckskraft entwickelt, eher parodistisch wirkt. Eigenartig auch, dass die Vorführung traditionellen Liedgesangs kompositorisch wenig ergiebig war: Wolfgang Rihms Textvertonungen von Heiner Müller, Rainer Maria Rilke und Karoline von Günderode konnten in Christoph Prégardiens Interpretation den Charakter des Altbackenen und Betulichen nicht abstreifen. Erinnert sei an ein Liedrecital mit Claudia Baranisky und Axel Bauni in einer früheren Ultraschall-Ausgabe mit äußerst ausdrucksvollen Aribert-Reimann-Gesängen – vielleicht hätte man diesen großen Vokalkomponisten zum 80. Geburtstag berücksichtigen können, wie auch von Dieter Schnebel nur eine theoretische Lesung „erklang“.
Instrumentales umrahmte solche Auslotungen der Stimme auch oft beziehungsreich: Marc Sabath etwa beschäftigt sich in „Asking Ocean“ für Streicher mit „Stimmung“ und entdeckt den immensen Farbenreichtum der „just intonation“; José Maria Sánchez-Verdú geht in „Chanson rouge“ für die archaische Schalmei an einen Ursprung der Klangerzeugung, den Atem, zurück. Unerfindlich, warum im Abschlusskonzert des DSO neben dem mäßig interessanten „Triptico vertical“ von Philipp Maintz noch ein „Skandal“ inszeniert werden musste: Mit Heinz Winbecks Fünfter Sinfonie, schwerfällig im Stil Anton Bruckners daherkommend, wollte man offensichtlich testen, wieviel sich „ein Publikum gefallen lässt.“ Offensichtlich viel zu viel schlechte Musik. Der insgesamt intensive, anregende Ultraschall-Jahrgang hat diesen Abschluss nicht verdient.