Hauptbild
Agnieszka Hauzer (Agathe) | Bryndís Guðjónsdóttir (Ännchen) | Solistinnen des Jugendchores der Akademien am Theater Kiel (Brautjungfern). Foto: Olaf Struck

Agnieszka Hauzer (Agathe) | Bryndís Guðjónsdóttir (Ännchen) | Solistinnen des Jugendchores der Akademien am Theater Kiel (Brautjungfern). Foto: Olaf Struck

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Kiel interpretiert den „Freischütz“ aus französischer Sicht – als Albtraum

Vorspann / Teaser

Carl Maria von Webers „Freischütz“ wirft man gern, fast vorwurfsvoll vor, dass er der Prototyp deutscher Romantik sei. Alles, das böhmische Ambiente der Opernhandlung mit dem geheimnisvoll-düsteren Waldesdickicht, die tiefen Schluchten und der okkulte Anstrich mitsamt Kugelzauber sei typisch deutsch, typisch auch, dass man sich eine Braut „erschießt“, mit allen Konsequenzen. Für die Regie dieser Oper nun hatten die Kieler sich zum Saisonabschluss Jean-Romain Vesperini ins Haus geholt, einen vielseitigen Regisseur. Weil dies sein erster Bühnenauftrag in Deutschland ist, sei er kurz vorgestellt. Der erstaunlich Vielseitige hat in Paris Schauspiel studiert, Gesang in London und praktische Erfahrungen von Ost nach West gesammelt, auch im Kommerziellen, weshalb er Firmengründer wurde, eigene Schöpfungen zu vermarkten. Immerhin spricht er neben seiner Muttersprache auch Englisch, Deutsch, Italienisch und Russisch. 

Autor
Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Was neues Lesen bringt

Jede Inszenierung soll überraschen. Hatte Kiel sich mit einer frankophilen Sicht einen besonderen Erfolg ausgerechnet? Der kommt eigentlich bei jedem „Freischütz“. Er zieht immer, zumal er vermeintlich etwas für Kinder ist. Das Auditorium in Kiel war deshalb ebenfalls gut gefüllt, da dort einige Familien mit jüngeren oder älteren Kindern saßen oder gar Schulklassen. Günstig ist dort, dass im Bühnenlicht tatsächlich eher ein optisches Spektakel stattfand als ein musikalisches. Viel wurde gezaubert, nicht nur im Wald, den Christophe Chaupin raffiniert be- und plastisch ausleuchtete, auch mit szenischen Bezügen. Sogar der Regisseur hatte vorher gründlich gelesen. Sein Ergebnis formulierte er im Programmheft so, dass „schon im Eingangschor mit seinen ekelhaft fiesen ‚He,he, he-Chören … albtraumhaft diese Gesellschaft gezeichnet wird.“ Er wurde ein „Schwanken zwischen der Erzählhaltung“ gewahr, ob „real oder irreal“. Das „ist vielleicht auch sehr französisch“, womit ein ethnischer Deutungsvorwurf, wie anfangs befürchtet, vom Tisch wäre. 

Vesperinis Inszenierung basiert also darauf, dass etwas „ein Traum ist“, möglicherweise auch „im Drogenrausch“ geschieht. Das erlaubt jede Irrealität, alles Mehrdimensionale und Mehrdeutige, auch alle Spielorte schnell parat zu haben, omnipräsent den Wald, nah und fern, finster und lichtdurchflutet. Er wird zudem als Kulisse und Projektionsfläche für spektakuläre Videos. Irgendwann, lässt sich voraussehen, benötigt man kaum mehr Kulissenbauer, nur mehr Videospezialisten wie Étienne Guiol und Wilfrid Haberey, die hier mit ihren Filmen optisch überwältigen. Man kennt diese Technik, ist trotzdem visuell erdrückt, wenn darin sich die Handlung vollzieht, oder das, wie der Regisseur sie neu begründet.   

So spielt sich die Schauerszene, auf der Kaspar die Freikugeln fertigt, sehr ebenerdig ab. „Furchtbare Waldschlucht“ steht im Textbuch von Friedrich Kind, das Carl Maria von Weber einst vertonte. Hier ist es der Boden einer Lichtung mit ein paar Baumstümpfen. Dazwischen hängen durchsichtige Plattformen, die verschiedene Ebenen von Projektionsflächen bilden, auf denen neben Blitzen mystisches Getier wie Wölfe, Hirsche oder Adler den Fortgang beim Kugelgießen skandieren.

Musik: sehr unromantisch, anfangs eher breit, später flach

Das bannt, überwältigt die Augen und überfordert das Gehirn, mischt die Eindrücke mit der Folge, dass die Musik kaum mehr wahrgenommen wurde. Musste sie auch nicht, denn Benjamin Reiners, der scheidende GMD, hatte an diesem Abend nicht seinen besten, obwohl es seine letzte Premiere in Kiel war. Gleich bei der Ouvertüre klang es aus dem Graben sehr unromantisch, anfangs eher breit, später flach. Dass es bei dem Quartett der Hörner mal am Ansatz schwächelte, wäre zu überhören, nicht aber das Gleichmäßige im Spiel, das vergessen ließ, wie wunderbar gerade dieses Instrument zum Sujet dieser eben doch romantischen Oper passen könnte. Die Musiker schienen eher nicht recht gefordert, klangen auch an anderen Stellen ab und zu weniger inspiriert. Erst bei der Begleitung der Solisten änderte sich das, da schien Reiners noch ganz präsent. 

Was leider ein zweites Manko dieser Aufführung wurde, war in etlichen Szenen der Chor, auch er in einigen Szenen als typisch deutsch kategorisiert. Ein recht großer des Hauses und dazu der ihn verstärkende Extrachor war einzustudieren (Gerald Krammer), dann die Solistinnen des Kinder- und Jugendchores der Akademien (Moritz Caffier). Die Bühne war voll, wenn alle auftraten, aber nicht immer klang-voll, weil Spitzentöne ungenau im Tempo und in der Höhe waren. Eine rühmliche Ausnahme leisteten sich die Brautjungfern mit ihrem „Wir winden dir den Jungfernkranz“. Er hatte die Qualität zum Charterfolg.

Das bietet den Übergang zu den Solisten des Abends. Sie hatten darunter zu leiden, dass Vesperini seine Aufgabe darin erfüllt sah, statisch sinnvolle Tableaus zu entwickeln. Einerseits mag das günstig für einige Sänger sein. Sie standen vorn, konnten sich aufs Singen konzentrieren. Andererseits kam das seinem Ansatz von Traumspiel entgegen, das in Bildern erstarrte, obwohl viele recht bewegt träumen. Das Damenduett von Agnieszka Hauzer als Agathe und Bryndís Guðjónsdóttir als Ännchen zum Beispiel kam die Statik sehr unterschiedlich entgegen. Der ersten, der sehr gern sehr ruhig agierenden, ihre schöne Stimme mit Bedacht formenden Sopranistin sehr, der anderen vor Spiellust berstenden sehr viel weniger. Der ersten auch deshalb, weil ihr der Ausstatter Alain Blanchot ein Reifrockkostüm auf den Leib geschneidert hatte, das einer Spieluhrfigur in einem adligen Salon angemessen gewesen wäre, auch ihre Armhaltung und Gestik. Die zweite dagegen durfte auch optisch nicht verbergen, dass sie zwar Verwandte, aber eigentlich Zofe war. 

Max hat natürlich als einziger Tenor das Vorrecht, unter den Männern zuerst genannt zu werden. Ihn sang sehr solide Michael Müller-Kasztelan, was gut zu der Art passte, wie der sehr vielseitig im Kieler Ensemble Eingesetzte hier zu wirken hatte, scheu, wie zu etwas gezwungen, eben albtraumhaft. Welch‘ Glück, dass er auch in Kiel seine Agathe schließlich doch bekam. Eigentlich ist das keine schlechte Deutung dieser Figur, wie auch die des Kaspars für Jörg Sabrowski, der sich immerhin seiner Bewegungslust hingeben durfte. Alles andere war ausgewogen, vor allem stimmlich. 

Zum Schluss

Am Rande sei vermerkt, dass dieser „Freischütz“ gleich mit zwei Frischluft-Inszenierungen in Konkurrenz steht, mit der in Bregenz, weit weg, und der auf der anderen Seebühne, sehr nah, in Carl Maria von Webers Geburtsort Eutin. Dort darf man zudem damit wuchern, dass im Garten zum Fürstbischöflichen Wasserschloss neue Ränge eingeweiht werden und sich alles unter gewaltigen und echten alten Bäumen abspielt. 

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!