„Alles, was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe“ stellte Elias Canetti in seinen Aufzeichnungen fest. Das zeigte die aus Madrids Teatro Real übernommene Inszenierung eines über 290 Jahre alten Meisterwerkes: Humane Gültigkeit über alle Zeit hinweg.
1920 begann die Händel-Renaissance in Göttingen und Oskar Hagen stellte zur Bearbeitung der vielfach entstellten Partitur fest: „Jede Aufführung einer Händel’schen Oper wird die umfassendste sinnlich-anschauliche Gegenwart der Handlung zu erstreben haben… Aus diesem Grunde wäre eine exakte Rekonstruktion der Darbietungen, wie sie zu Händels Lebzeiten… stattfanden, einfach sinnlos.“ Streng historisierende Originalklang-Fans würden dem jetzt, fast 100 Jahre später, widersprechen. Sie kann Frankfurts Oper musikalisch und vokal gewinnen. Nicht nur dass Andrea Marcon am Pult steht; er arbeitet am liebsten in Zürich und mit dem Frankfurter Museumsorchester: an zwei Cembali mit ihm und Alina Ratkowska bilden ein Cello sowie Laute und Barockgitarre das Continuo; die Streicher spielen auf Darmsaiten; neben Naturhörnern erklingen Barockfagott und -oboe, eine alte Traversflöte und Blockflöten – so souverän und klangschön, dass er sie quasi-solistisch aus dem hochgefahrenen kleinen Orchester aufstehen und mit den Bühnensolisten „concertieren“ lässt.
In der Premiere wirkten die beiden ersten Akte der aktionsreichen Handlung noch musikdramatisch zu rund und zu sehr getragen; dann kam der passende barocke „Furor“ auf. Denn erst nach langen Wirren voll Neid, Hass, Wut, Gewalt und Tod löst sich vieles im „lieto fine“. Dafür hat Händel im England Georgs II. natürlich eine historische Verkleidung benutzt: die frühmittelalterliche Königin der Langobarden Rodelinda hält ihren Mann Bertardio nach einem Putsch für tot, während er sich in die Illegalität gerettet hat, um Frau und Sohn Flavio zu schützen. Prompt wollen leidenschaftlich erglühte und kriminelle Mannsbilder von Rodelinda Sex und Macht in einem – und der nur vermeintlich tote Ehemann erlebt alles zweifelnd und verzweifelt mit. Er landet trotz seines treuen Freundes Unulfo im Gefängnis, aus dem ihn Rodelinda – wie später Leonore ihren Florestan – rettet.
Zeit still
Dafür stand ein exzellentes Solistenensemble auf der Bühne: Lucy Crowe als vokal und weiblich attraktive Titelheldin, die sich nach anfangs bemühter Höhe strahlend freisang; neben ihr Andreas Scholl als überragender Counter-König Bertardio; mit Martin Mitterrutzner (Grimoaldo) und Božidar Smiljanić (Garibaldo) vokal wie spielerisch fies brillante Usurpatoren – kontrastiert vom neuen polnischen Counter-Star Jakub Józef Orliński, der als treuer Freund Unulfo umhergestoßen wurde – und dies in gebrochene Breakdance-Einlagen umsetzte – und dann noch herrliche Mezzo-Töne von der berechnend im halben Glück endenden Eduige Katharina Magieras. Mehrere Solo-Arien rührten an, das vermeintliche Abschiedsduett Rodelinda-Bertardio „Io t’abbraccio“ ließ gleichsam die Zeit stillstehen. Am Ende einhelliger Jubel für alle.
Doch eine Ovation bekam das stumme Kind Flavio – denn der Familienabgründe immer wieder sezierende Regisseur Claus Guth hatte in all dem Schrecken das Kind als Hauptleidtragenden erkannt – und in der spanisch-katalanischen Theaterszene mit dem erwachsenen, aber kleinwüchsigen Fábian Agosto Gómez Bohórquez einen Idealinterpreten gefunden. Getreu der eingangs zitierten Hofer-Feststellung „umfassendste sinnlich-anschauliche Gegenwart“ sieht Guth alle damalige Macht, Blut, Gewalt und Tod auch in einem Heute, kaschiert von anfangs guten Manieren samt Designer-Kleid, Frack und Stresemann. Doch das Kind durchschaut, erkennt, erleidet – und ist traumatisiert. Denn die horriblen Züge der Machtspieler zeigen sich für die Augen des Kindes als gespenstische Schreckfiguren – sechs schwarz-graue Maskenspieler, die durch die Räume geistern.
Alles spielt nämlich in und um eine pseudo-weiß-klinisch saubere Georgianische Villa – Ausstatter Christian Schmidt hat auf der Drehbühne ein Allendesches Geisterhaus mit offen einsehbaren edlen Räumen, Möbeln, Treppen und Terrassen gebaut – faszinierende Vielfalt und unentrinnbares Miteinander perfekt vereinend. Durch dieses „Nicht-Zuhause“ rennend, springend, turnend, flüchtend und sogar durch die Wände den Horror der Geister ahnend, erlebt der kleine Flavio eine von Unsicherheit und Schrecken geprägte Kindheit. Malend versucht er vieles davon zu bannen – und seine kritzeligen Zeichnungen erscheinen als Video-Vergrößerungen auf den Wänden und verblassen wieder. Nahezu pausenlos spielt Gómez Bohórquez das hochexpressiv mit vollem Körpereinsatz durch – mehrfach auch die bewegend leisen, schmerzlich innigen Klage-Arien hindurch – und da wirkt dann der Händelschen Tiefe zu viel Aktionismus aufgepfropft und Zuschauerkonzentration von grandioser Musik abgezogen. Aber als aus der Musik herauswachsende dramatische Offenlegung von Kindesleid war das atemverschlagend und wohl auf keiner Opernbühne bislang so zu erleben. Eben „umfassendste sinnlich-anschauliche Gegenwart“ – oder „Händel 2019“.