Die Klassifikation von Künsten, Disziplinen, Gattungen, Arten und Formen entspringt derselben spätaufklärerischen Kategorisierungsbesessenheit, mit der man auch Flora, Fauna, Gesteine, Erdzeitalter und die Elemente in Spezies und Unterspezies einteilte. Angesichts der Vielstimmigkeit und Komplexität dessen, was Kunst und Welt bedeuten, blieben solche Versuche immer hilfloses Schulmeisterwissen.
Künstlerische Praxis kannte bei allen analytischen Trennungsversuchen immer auch den Drang zur Verbindung und Synthese: Angefangen bei der griechischen Tragödie als einem Ereignis für alle Sinne über die barocke Oper, die romantische Verschlingung der Künste und Gattungen, die Gesamtkunstwerkideen von Philipp Otto Runge, Richard Wagner, Aleksander Skrjabin und Arnold Schönberg bis zur Explosion des seit den 1950er-Jahren durch John Cage und andere ins Grenzenlose erweiterten Material- und Musikbegriffs. Gleichwohl widmen sich viele Veranstalter, Festivals, Institutionen, Vereine und Ensembles weiterhin nur einseitig bestimmten Erscheinungsformen von Musik. Sie folgen damit zumeist der Macht des Faktischen von bestehenden Strukturen: Häusern, Sälen, Orchestern, Hierarchien, Verwaltungen und personellen Zuständigkeiten. Mehr Durchmischung täte gut – und findet zuweilen auch statt.
Das 1988 von Claudio Abbado, dem damaligen Musikdirektor der Wiener Staatsoper gegründete Festival Wien Modern präsentiert im dreißigsten Jahr seines Bestehens vom 31. Oktober bis zum 1. Dezember rund fünfzig Ur- oder österreichische Erstaufführungen. Unter dem Motto „Bilder im Kopf“ gibt hier Musik besonders viel zu denken, zu imaginieren und fühlen. Schließlich ist auch das Konzert keine monomediale Situation und bietet die Veranstaltungsreihe „Wirklich tolles Kino“ verschiedene Kombinationen von Musik und Film. Im Rahmen einer Produktion des „sirene Operntheaters“ gelangt 44 Jahre nach dem Tod von Jean Barraqué dessen 1959 entstandene „Musique de scène“ für verschiedene Theaterstücke nach einem Libretto von Jean Thibaudeau zur Uraufführung, und zwar im „Mondschein“, dem ehemaligen k. und k. Post- und Telegraphenamt.
Neben eingeführten Konzertstätten spielt viele Musik dieses Jahr in Wien auch sonst an Orten, die üblicherweise festen oder bewegten Bildern vorbehalten sind: Museen, Galerien, Kinos. Immerhin sieben Uraufführungen bietet vom 22. bis 26. November die Biennale cresc. im Rhein-Main-Gebiet. Die neuen Werke stammen von Martin Matalon, Martin Grütter, Matej Bonin, Malte Giesen, Ole Hübner, Vladimir Gorlinsky und Andreas Eduardo Frank.
Am 7. November präsentiert im Stadtgarten Köln das Künstlerduo „gamut inc“ von Marion Wörle und Maciej Sledziecki ein „Musiktheater über das Ende“. Ausgehend von der Metapher des Schwanengesangs widmet sich ihr „This is not a Swan Song“ dem Enden, Untergehen, Aussterben: Vanitas vanitatum! Zu erwarten sind untote Ideologien, ein Lied in der ausgestorbenen Sprache der Tasmanier, veraltete Technologien, Diaprojektoren und Glühlampen, eine Tänzerin, ein Chor, Instrumente, Elektronik und Lichtkunst.
Ein weiteres neues Musiktheaterwerk wird am 10. November in der Kunst-Station Sankt Peter Köln uraufgeführt. Unter Leitung des Komponisten Francisco Concha Goldschmidt spielt das Ensemble Kommas dessen Kammeroper „Eloy“ für acht Musiker, Sprecher (Off-Stimme) und Video-Installation nach dem gleichnamigen Roman des chilenischen Schriftstellers Carlos Droguett von 1959. Dessen Text schildert als durchgehender innerer Monolog die Binnensicht eines Massenmörders, die Motive seines Verbrechens, seine Verfolgung durch die Polizei und seine Angst vor dem ihm drohenden Tod.
Weitere Uraufführungen
04.11.: Karl Gottfried Brunotte, Vierzehn Steine (Lava I), für Ensemble Belcanto, Haus der Chöre, Hessischer Rundfunk, Frankfurt; und Reinhard Febel, Heimat? für Bariton und Klavier, Bern
05.11.: Ehsan Ebrahimi, Farzia Fallah, Bijan Tavili, neue Werke für Ensemble Musikfabrik, Festival NOW! Essen
16.11.: Enno Poppe, Fleisch für Saxophon, E-Gitarre, Keyboard und Percussion, Bludenz
18.11.: Claus Kühnl, Strahl für Violine, Violoncello und Bayerisches Kammerorchester, Bad Brückenau
24.11.: Feliz Anne Reyes Macahis und Alan Hilario, Neue Werke für Ensemble Avanture, Elisabeth Schneider Stiftung Freiburg; und Rolf Riehm, Die Tode des Orpheus für Countertenor und Orchester, Saarbrücken
28.11.: Marcin Stanczyk, Unseen für Stimme und Ensemble E-MEX, Kunst-Station Sankt Peter, Köln