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Kirill Petrenko debütiert in der Isarphilharmonie

Untertitel
Das Stifterkonzert zum 50. Jubiläum der Ernst von Siemens Musikstiftung
Vorspann / Teaser

Ein gut kuratiertes Programm zeitgenössischer Musik für ein Jubiläum auf die Beine zu stellen, noch für eine so prestigeträchtige Institution, das ist gewiss keine leichte Aufgabe. Doch das ist Winrich Hopp, dem künstlerischen Leiter der musica viva, gelungen. Zumindest dramaturgisch, denn auf dem Programm für das Eröffnungskonzert am 17. September standen Werke, die Bezugspunkte zueinander knüpfen. Neben Iannis Xenakis‘ „Jonchaies“ und Karl Amadeus Hartmanns epochaler „Gesangsszene“, wurden György Kurtágs „Stele“ sowie eine Neukomposition des Ungarn Marton Illés gespielt.  Bespielt wurde die Isarphilharmonie, in welcher die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko gastierten. Da war es angemessen, wenn Hopp sich als Kurator einer musikalischen Pinakothek der Moderne hochstilisierte. Diese Worte und die Feierlichkeiten sind dann auch Anlass genug gewesen, das Publikum im Anschluss des Konzerts zu Umtrunk und Brezn einzuladen.

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Zunächst wurde Xenakis gespielt. Das im Jahr 1977 uraufgeführte Werk für großes Orchester ist sehr komplex. Es beginnt mit langsam, Streicher kratzen in höchster Lage. Sie schreien den Hörer an und es werden tiefste Seelenzustände ergründet, bevor sich dann langsam eine kontinuierliche Klangarchitektur aufbaut. Diese wirkt ­– wie so oft bei Xenakis – mechanisch. Es klingt wie das Starten eines Triebwerks, das immer mehr an Geschwindigkeit aufnimmt und schließlich zu überhitzen droht. Die Berliner Philharmoniker leisten dabei ganze Arbeit. Ihr diszipliniert-dynamisches Orchesterspiel gleicht in seiner feinen Bewegung der Kolbenbewegung eines 16-Zylinder-Motors. Und für diesen Ausdruck der durch Menschenhand gezeugten technischen Hybris kann man sich keinen besseren Ort vorstellen als die mit bestechend guter Akustik gesegnete Isarphilharmonie. Denn die Klangmasse ist überwältigend und erdrückend zugleich. Sie umgibt die Hörerinnen und Hörer und presst diese in den Sitz. Doch Petrenko bleibt gelassen. Er wacht über die Orchestermaschinerie und drosselt sie zum Stillstand herunter.

Beim zweiten Werk handelt es sich um ein Auftrags Werk von Márton Illés, dass für die Ernst von Siemens Musikstiftung geschrieben hat. Der Name „Lég-szín-tér“ lässt sich mit Luft-Farb-Raum übersetzten. Illés geht dadurch auf das vorige Werk ein, indem er das, was Xenakis so spielerisch ausführte, konzeptionell verarbeitet. In den drei Sätzen des Werks wird in verschiedenen klanglichen Nuancen die Bewegung von Musik als solcher skizziert. Das Instrumentarium kennt dabei genauso wenig Grenzen, wie die rhythmischen Formen. Doch man kann dem Konzept kaum folgen. Illés Werk bleibt musikalische Theorie und im Vergleich zum illustren Xenakis unverständlich. Da möchte man den Urheber gern fragen: Herr Illés, was wollen Sie uns mit der Komposition nur sagen? Doch letztlich fiebert man dem Ende des Stücks entgegen und damit verbunden der großen Frage: gibt es die Brezn in der Pause oder erst nach dem Konzert. Es ist allein dem stoischen Dirigat Petrenkos zu verdanken, dass sich das Stück in die Pause retten kann.

Eine Wiedergutmachung leistet die Gesangszene für Bariton und Orchester des Jahres 1963. Hartmanns unvollendet gebliebene Komposition nach Worten aus Jean Giraudoux‘ Sodom und Gomorrha ist ein Weckruf an die Überheblichkeit großer Kulturnationen, die im Untergang begriffen sind. Brilliant gesungen von Christian Gerhaher ist es die Ausformulierung von dem, was Xenakis mit rein musikalischen Mitteln skizziert hat. Gerhaher macht dabei aus dem monumentalen Orchesterwerk einen Dialog zwischen Zuschauer und ihm, dem Rezitator. Das Orchester, dessen Klangvolumen zwischen brutalem Krach und introvertierter Mäßigung changiert, wird partiell zur Begleitung degradiert. Zu bedeutungsgeladen ist der stimmgewaltige Bariton und zu genial sein von Ironie und Pathos geprägter Sprachstil, der jeden Theaterschauspieler in den Schatten stellt. Schließlich endet die Musik des unvollendet gebliebenen Werks. Die finalen tonlosen Worte durch Gerhaher umso wirkmächtiger: es ist ein Ende der Welt! Das Traurigste von allen…“. Und diese Traurigkeit wird von Kurtags „Stele“ eingefangen. Von Zurückhaltung geprägt ist dieser auskomponierte Grabstein. Der Zuhörende verliert sich in den wiegenden und langsam dahinfließenden Klangschwaden. Es gibt kein Zeitgefühl in dieser Komposition, bei der die Berliner Philharmoniker mit ihrem Dirigenten Petrenko zu einer nebulösen Einheit verschmelzen, während sie langsam dem Ende entgegenspielen.

Das musica viva-Konzert macht Lust darauf neues zu entdecken oder neues wiederzuentdecken. „Musik darf nicht ausschließlich aus der Sicht eines alten Kanons definiert werden, sondern vom hier und jetzt“, sagte Winrich Hopp am Ende seiner Begrüßungsworte. Er soll doch bitte recht damit behalten.

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