Stockhausen war 50 Jahre alt, als er das gigantomane Projekt „LICHT, die sieben Tage der Woche“ als Komplex von sieben Opern 1978 in Angriff nahm. Er veranschlagte damals die Arbeit auf gut zwanzig Jahre. Nie schien er Zweifel zu haben, dass seine psychischen und physischen Energien nicht ausreichen könnten. Stück für Stück schritt Stockhausen voran, die ersten fünf Opern erlebten in Mailand (Donnerstag, Samstag und Montag) und in Leipzig (Dienstag und Freitag) Gesamt-Uraufführungen, immer wieder aber gab es Teilpremieren, Derivate, herausgelöste Einzelstücke. Mittwoch und Sonntag konnten, die Krise der Opernhäuser war mit verantwortlich, bislang nur in Einzelteilen vorgestellt werden.
Der Schluss vom Sonntag, die finale Rundung erklang nun beim „19. Festival de Música de Canarias“ in Las Palmas mit dem WDR Sinfonieorchester und dem WDR Rundfunkchor Köln. Auch hier schlossen sich wie von weiser, höherer Hand geführt Kreise: Vom Teatro alla Scala, dem Sinnbild der großen Operntradition des 19. Jahrhunderts, zum futuristisch anmutenden, kühn auf einer Klippe in den Atlantik (und ins 3. Jahrtausend) hinausgebauten Auditorio Alfredo Kraus, getragen vom WDR, wo Stockhausen in den 50-er Jahren die ersten kompositorischen Schrittversuche unternahm und der nun also die Conclusio des spiralzyklischen Weltbilds von Stockhausen verwirklichte. Mit „Hoch-Zeiten“ ist dieser Teil, der die Vision einer globalen Versöhnung ansteuert, überschrieben.
Musiktheater heißt, nur wenige haben das so einfach tief wie Stockhausen begriffen, Spielraum lassen. Man mag sich an Trivialitäten des Entwurfs stoßen, am Menschenbild, am Frauenbild, an simpel anmutenden Bildern von Geburt, Krieg, Liebe, Tod oder spiritueller Aufhebung. Stockhausens buddhistisch unterminierter Kreislauf des Daseins ist optimistisch. Er traut dem Menschen den Gang zu höherer und gereinigter Existenz zu und stellt sich demonstrativ gegen das Untergangs-Szenario von Wagners Ring. Der szenischen Deutung stehen in Zukunft alle Türen offen und solange es Oper gibt, wird man immer wieder den Großversuch wagen und die immense Herausforderung von „LICHT“ annehmen. Garant hierfür sind (musiktheatertypisch) nicht der inhaltliche Entwurf, sondern die kompositorischen, die musikalischen Herausforderungen. Jede Szene des über 20-stündigen Komplexes, stellt sich neuen Konstellationen, neuen Problemen. Das Verhältnis von agierenden Personen und musikalisch Ausführenden wurde auf immer neue Weise entzerrt, Raumkomposition mit bewegten Klangquellen ragt in ganz neue Dimensionen. Der Oper als Miteinander von Szene, Theaterraum, Solisten, Orchester und Chor wurden neue Dimensionen eröffnet. Die Utopie des Spirituellen legte sich neue Gewänder an.
Stockhausen, das ist sein Stärkstes, lässt nicht locker. Mit dem „Hubschrauber-Quartett“ zum Beispiel (die Spieler eines Streichquartett sitzen in vier fliegenden Hubschraubern), das zum „Mittwoch“ gehört (man kann sich den, sich die Haare raufenden Operndirektor gut vorstellen), ist er in Bereiche abgehoben, die den Sachverstand operndramaturgischer Zweckmäßigkeit mit den Füßen traten. Klänge aus anderen Welten, parallele Universien, Kommunikation jenseits der Lichtgeschwindigkeit, spirituelle Kontakte zu Aliens – all diesem spürt mit der Überzeugung eines Auserwählten nach. Und wer die Welt aus solchen Perspektiven betrachtet, der findet immer wieder Lösungen, die jenseits des common sense Modelle anbieten, die als Gefundene eine ganz natürliche Selbstverständlichkeit reklamieren.
„Hoch-Zeiten“ (nur das deutsche Wort hat diesen doppelten Einklang), die fünfte Szene des „Sonntag“ beschreiben die globale Aussöhnung. Es ist der lebensstiftende Impuls des körperlich-geistigen Miteinanders, das Aufheben von Trennung. Zwei wird Eins. Das gibt die Kontur vor. Zwei 35-minütige Musikstücke, eines für Chor, eines für Instrumentalisten, laufen zeitgleich in zwei Räumen ab. Der Hörer ist statisch, bleibt Fixpunkt. So hört er zum Beispiel zunächst den Instrumentalpart. Lautsprechereinblendungen des gleichzeitigen Chorwerks aber geben Kunde von anderer Existenz: Noch etwas tut sich also im Universum, das sich auf merkwürdige Weise in den realen Vorgang einklinkt, das Zusammengehörigkeit signalisiert. Wellen der einen Welt verbinden sich mit denen einer anderen. Der Kontakt aber reißt immer wieder ab. Selbst die Instrumentalisten (und auch der Chor) sind in fünf Gruppen aufgeteilt: Unterschiedliche Lebensformen, die sich in divergierenden Tempo- und Rhythmusebenen voneinander abheben. Die Gewänder – rotviolett, orange, blau, grün und hellblau – geben die Zuordnung wieder, nicht uniformiert, sondern eher wie mit farblichen Erkennungszeichen: auch ein grelloranges Halstuch mag solches leisten. Doch es kommt zum Austausch, Duette formieren sich, einmal auch ein Terzett. Hochzeiten im Sinne des Wortes werden gefeiert, interkulturelle Verbindungen. Das mag sich über verwendete Tonsysteme mitteilen, mehr noch vielleicht im Chorpart mit den fünf Weltsprachen Sanskrit, Chinesisch, Arabisch, Englisch und Suaheli. Denn der, der zunächst den Istrumentalpart erlebte, erfährt nach der Pause die chorische Ebene (und umgekehrt). Allein im Geistigen, im Zusammendenken ergibt sich das vollkommene Miteinander. Es ist ein schönes, ja ein genial konzipiertes Bild des menschlichen Wunsches nach globaler Versöhnung, nach Gleichklang, der im Jetzt nicht stattfindet und der dennoch bewusst wird. Und am Schluss des Chorteils dringt ein Trompeter aus der parallelen Welt in den von Chor besetzten Raum ein: wie eine Samenzelle in das Ei. Symbole wie diese liebt Stockhausen immer wieder. Oft sind sie naivem Denken abgezogen, gerade da-
durch aber wächst ihnen Nachhaltigkeit zu.
Es ist erstaunlich: Man mag diese Musik aus verfließenden Rhythmen, die sich über die Töne immer zum stationären Raumklang binden, einfach vernehmen, man mag sich Gedanken machen über die Komplexität der Koordination, über technische Rahmenbedingungen, die alle reibungslos ineinander greifen müssen. Aber darüber hinaus stellt sich etwas ein, das sich berechenbarer Rationalität entzieht. Da ist die Vorstellung der parallelen Ereignisse, da ist Sehnsucht des Miteinander. Musik-Erleben spielt sich hier nicht allein auf der Ebene des Hörens ab, sondern, sogar weit stärker noch, auf der Ebene des Vermissten, das gleichwohl an anderem Ort erklingt. Globale Zusammenkunft aber heißt, meint man es wirklich ernst, nicht die Akzeptanz des Anderen, auch nicht bloße Toleranz. Sie heißt das freudige Näher-Kommen des Vermissten.
Das will der letzte Teil aus Sonntag, die „Hoch-Zeiten“ vermitteln. Der WDR-Chor unter souveräner Leitung von Rupert Huber, das WDR-Orchester unter Zsolt Nagy haben alle Kräfte in Bewegung gesetzt, diesen großen Entwurf in Klang zu setzen: Erlösung nicht im Tod, sondern in der Befruchtung. Ob Wagner nun vom Kopf auf die Füße oder von den Füßen auf den Kopf gestellt wurde, mag die Geschichte der Menschheit selbst erweisen. Der heutigen Gegenwart scheint freilich Wagners Weltendämmerung näher.