Das Programm dieses Konzerts der Münchner musica viva erwies sich nicht nur als absolut stimmig in der Fokussierung auf Klangqualitäten aus dem Geräuschhaften heraus zum Substanziellen hin. Es ergaben sich zudem viele Querbezüge in der Behandlung von Lautlosigkeit und Stille sowie der fülligen Klangsubstanz. Einfühlsame Klangsinnlichkeit beleuchteten unter verschiedenen Blickwinkeln hierzu Kompositionen von Michael Pelzel, Mark Andre und Martin Smolka.
Stimmlosigkeit an der Orgel? Ja, dazu gibt es Möglichkeiten. Pelzels „études-bagatelles“, die hier im Herkulessaal ihre deutsche Erstaufführung erlebten, sind geradezu darauf angelegt, die Pfeifen daran zu hindern, ihre schwingende Luftsäule gänzlich aufzubauen. Einerseits mittels nur halb gezogener Registerzüge, die dadurch die Ventile der Windladen nur wenig öffnen und somit die angespielten Töne allenfalls kraftlos hauchen lassen. Andererseits nutzte Pelzel die Trägheit der Tonerzeugung und glitt so schnell über die Tasten, dass sich vor allem in Holzpfeifen-Registern kein voller Klang entwickeln konnte. So zumindest in den „études-bagatelles I-II“ für Orgel solo von 2010, die vor allem mit Geräuschen der Luft in den Windladen und der Traktur sowie mit Fingerhut-Klappern auf der Klaviatur eine erstaunlich entrückte mystische Atmosphäre zu erzeugen vermochten, die sich mittels Clustern mit Spannung auflud.
Anders die „étude-bagatelle IV“ für Orgel solo und fünf bis sechs Assistenten – im Raum verteilt – von 2011. Das experimentelle Blasen einzelner Pfeifen erzeugte zwar ein wohltuendes Vogelkonzert, doch die dramaturgische Entwicklung des Werkes verlor sich im Unbestimmten.
Ganz anders bei „…hij…I“ vom in Berlin lebenden Franzosen Mark Andre, dem ein großer Spannungsbogen aus der Feder geflossen war. Das 2008 – 2010 entstandene Orchesterwerk entwickelte sich aus einem geradezu pantomimisch wirkenden Streichen an den Zargen, das zunächst wohl gar nicht wahrgenommen worden wäre, hätte nicht Peter Rundel am Pult beherzt und straff den Taktstock vor dem souveränen Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks geschwungen. Dadurch zur absoluten Stille gezwungen, war das Publikum alsbald gefangen in dem fesselnden, kaum vernehmbaren Spiel. Die Entwicklung offenbarte sich zunächst in der Strukturierung der Einsätze, in dem sich zunehmend echte Klänge zu erkennen gaben: ein langsamer Einstieg aus dem Geräuschhaften in die Welt der substanzvollen Töne bis hin zu großen Fanfaren in zeitversetzten Schichtungen. Alles blieb anfangs weitgehend fragmentiert, die Form zerklüftet. Andre ergründete die Zwischentöne, die feinsten Nuancen. Dafür brauchte er Hilfsmittel zum Spiel der Instrumente, Holzbläser spielten indes ohne Rohrblätter. Der volle, große, dank der langen Entwicklung fast monumentale Klang war nur kurz zu hören: Eine zaghafte Eruption, bevor die Musik allmählich wieder ins Geräuschhafte zurückkehrte, in perkussive Strukturen, in denen sich teils fragmentierte Grooves offenbarten.
„Noli me tangere“, dieser ikonographische Topos der Renaissance- und Barock-Malerei, ist darin das Thema und stammt aus dem 20. Kapitel des Johannes-Evangeliums, der Begegnung Maria Magdalenas mit dem Auferstandenen Christus in Gärtnergestalt. Darauf basiert der Titel: „hij“ steht für „Hilfe Jesus“, und der erste Satz des noch unvollendeten Triptychons für ein Bild des Weges zum Transzendenten, für ein Bild des Übergangs.
Auch Martin Smolka näherte sich in dieser stark eingegrenzten Weise an ein religiöses Thema. „Annunciation“ (Verkündigung) – als Kompositionsauftrag der musica viva des BR hier in Uraufführung – verwendet Texte des Lukas-Evangeliums (I, 27 – 35) und der lauretanischen Litanei, doch auf Schlüsselwörter reduziert. Keine Erzählung, als vielmehr ein Spiel mit Wortbedeutungen, mit deren musikalischer Auslegung und Gegeneinander-Abwägung, hier vom Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung Peter Dijkstra) gewohnt packend und in musikalischer Perfektion interpretiert.
Anders als bei Andre stieg Smolka mit großem Klang ein, ließ rasch an- und abschwellende Töne für eine mystische Atmosphäre im Orchesterpart sorgen. Die anschließende Rücknahme führte zum Choreinsatz in Klangflächen und Clustern bis in den mikrotonalen Bereich hinein. Der Text war dabei im Grunde nur Anlass für die Entwicklung diverser Klangqualitäten, die allmählich thematisches und figuratives Spiel gänzlich ablösten und von Peter Rundel in weitem Atem gehalten wurden. „Ich bin von Euphonie besessen“, verriet Smolka in einem Interview. Darin zeigt es sich in gewisser Weise der nordischen Tradition und der Entwicklung in den baltischen Ländern nahe.
Bei der Klangsuche orientiert sich der Tscheche allerdings in der Regel an der reellen Welt, auch in folkloristischen Bereichen. Insofern ist der Fokus auf Monotonisierung und Verlangsamung wie bei Morton Feldman, Salvatore Sciarrino und Steve Reich in „Anunciation“ ein anderer Ansatz des Komponisten. Das musikalische Kontinuum (ähnlich dem Canto perpetuo bei PÄ“teris Vasks) setzte sich hier letztendlich durch. Lang anhaltende Passagen in extrem weiter Wortdehnung, klangflächig wie figurativ vom Orchester mitgetragen. Zum Schluss setzte die Entwicklung doch noch zu einer figurativen Gestaltung und rhetorischen Verdichtung an, was dem Werk im Rückbezug eine greifbar körperhafte Form verlieh und – im lang anhaltenden Applaus bestätigt – beim Publikum außerordentlich gut angekommen war.