Der unmittelbare intensive Klang erfüllte das Kirchenschiff, ließ keinen der vielen Zuhörer unberührt. Der durchsichtige Klang des Tafelmusik Orchesters und die jugendlichen Stimmen des Tölzer Knabenchors unter der Leitung von Bruno Weil verliehen Beethovens 9. Sinfonie jenes optimistische Empfinden, das diesem so idealistischen Werk Schillers und Beethovens innewohnt, Gedanken der Aufklärung, Hoffnung auf ein sinnvolles Leben in menschlicher Gemeinschaft. Nach 19 Jahren endete das „Klang und Raum Festival“ in Irsee mit Haydns Sinfonie Nr. 44 e-moll und der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven, beide Werke schienen die Situation des Festivals, das nach den vielen Jahren unter der künstlerischen Leitung Bruno Weils in diesem Jahr endete, und die Gefühle von Ausführenden und Publikum zum Ausdruck zu bringen.
Es war die Trauer um ein Festival, das sich undogmatisch und offen der Interpretation der Werke der Klassik auf historischen Instrumenten widmete, spürbar. Denn das Festival zeichnete sich durch hohes Engagement der kanadischen Musiker und des Tölzer Knabenchores wie der jeweiligen Solisten und des Dirigenten Bruno Weil in besonderer Weise aus. Irsee war der Ort, der Raum und Klang durch den Idealismus der Beteiligten, auch des langjährigen Leiters der Akademie, Dr. Rainer Jehl, zu einer beglückenden Einheit verband. Dieses „Paradies“, wie die Süddeutsche Zeitung vom 7. September schreibt, ist nun „verschlossen“. Das Festival wird nicht fortgeführt, obwohl es Meisterkurse für historische Aufführungspraxis, Symposien unterschiedlicher Schwerpunkte, Kammerkonzerte Alter Musik mit hochkarätigen Musikern und Wissenschaftlern mit einbezog in den Gesamtklang des Festivals. Der Grund, so heißt es, sei das fehlende Geld. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Kultur die Bankenprobleme bezahlen soll, es scheint auch der Wille und der Idealismus der neuen Leitung der Akademie zu fehlen, Raum und Zeit für diese Idee der intensiven musikalischen Arbeit zur Freude eines internationalen Publikums zur Verfügung zu stellen. Die Aufführung der 9. Sinfonie von Beethoven, unkonventionell und strahlend mit Knabenchor statt mit einem gemischten Chor, wie sie seit ihrer Uraufführung in Wien erklang, bildete den glanzvollen Höhepunkt des Festivals.
Auf meine Frage: (B.-R.) „Welche Gedanken und Gefühle bewegen Sie nach dem gestrigen Konzert?“ antwortete Bruno Weil: „Es ist etwas extrem Emotionales. Ein Höhepunkt, ein eigentlicher Abschluss, denn es gibt keine 10. Sinfonie von Beethoven. Besonders berührt hat mich das Spirituelle in der Kirche. Die Musik ist höhere Offenbarung. Die unverdorbenen Knabenstimmen erzeugen einen direkten Klang ohne Vibrato, das Orchester ist kleiner als sonst. So stellt man sich Beethovens Orchester vor. Da ist nichts von Routine da. Dies überträgt sich in besonderem Maß – das Echte überträgt sich.“
B.-R.: „Sie musizieren all die Jahre mit dem Tafelmusik Orchestra zusammen – wie kam es dazu?“
B. Weil: „ Durch Wolf Erichson von Sony. Er sagte: `Die kennt niemand` und meinte, ich solle sie mir mal anhören. Sie spielten bei den Ludwigsburger Festspielen, so ging es los.“
B.-R.: „Was ist das Besondere gerade dieses Festivals in Irsee?“
B. Weil: „Die Freundschaft mit den Musikern, der Geist des Ortes, die Freundschaft auch zu den Veranstaltern, zu Dr. Rainer Jehl. Sein Idealismus hat dazu beigetragen, zur Hochachtung und Freundschaft miteinander, vom Orchester zu ihm. Das Engagement war einmalig. Die Idee wurde mitgetragen. Ich kann das machen, was ich für richtig halte.“ Und Weil fügt hinzu: „Die Musik geht nicht mehr in die Ohren sondern ins Auge!“
B.-R.: „Mit `geht ins Auge` ist ja die Doppeldeutigkeit gemeint, dass die Musik, dadurch dass sie nur als Show wahrgenommen wird, ihre eigentliche Botschaft und mit dem Verlust dieses Festivals in Irsee einen Ort des intensiven Zuhörens verliert. Was sind nun Ihre nächsten Ziele? B. Weil: „Ich brauche einen Idealisten, der das mitträgt: `Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch`. Diesen Satz habe ich zuerst gelesen in den Lebenserinnerungen von Bruno Walter. Beethoven führt an den Abgrund und zum rettenden Schluss. Das optimistische Gefühl ist in der Klassik!“
B.-R.: Sie verfolgen die Idee und haben sie hier in Irsee unkompliziert umgesetzt, die Musik mit dem Instrumentarium der Zeit aufzuführen – warum?“
B. Weil: „Dadurch entsteht das Unmittelbare. Die Instrumente werden neu verwendet in ihrer Zeit. So fordert Beethoven vom Naturhornisten eine Ces-Dur Tonleiter, die dieser nun mit der Hand formen muss – eine schier unmenschliche Anforderung an die Instrumentalisten, die wir versuchen – einschließlich der Metronomangaben Beethovens, die authentisch sind, zu lösen. Beethoven zu einem der Musiker damals: `Was interessiert mich seine elende Fidel, wenn der Geist zu mir spricht!“ Der klassische Stil verschwindet total. Die stilistischen Dinge sind kompliziert. Um sie zu kennen, ist das Studium der Handschriften notwendig. Leopold Mozart weist seinen Sohn bereits in einem Brief auf die besondere Stilistik des „französischen Gouts“ in Mannheim hin, den es zu treffen gelte, wenn er dort Erfolg haben wolle. Die Unmittelbarkeit lässt die alten Instrumente modern klingen und die modernen Instrumente alt. Die Spiritualität der Musik, ihren Geist muss man erleben, um sie zu übertragen: `Glücklich ist wer fremde Größe durch Liebe macht zu seiner eigenen. (frei nach Grillparzer).“
Diese Spiritualität, diese Liebe zur Musik, teilten neben dem Dirigenten, den Musikern des Orchesters und den Sängern des Tölzer Knabenchors mit seinem Leiter Gerhard Schmidt-Gaden, auch die Solisten Sigrid Plundrich, Sopran; Vanessa Barkowski, Alt; Andreas Weller, Tenor und Hanno Müller-Brachmann, Bass-Bariton. Nach dieser überwältigenden Aufführung der Sinfonie von Beethoven bildete am Sonntag die „Schöpfung“ von Joseph Haydn den Abschluss des Festivals, ebenfalls mit unmittelbarem Klang und großem Einfühlungsvermögen aller Beteiligten musiziert. So endete das Festival, wie es vor 19 Jahren begann: mit der „Schöpfung“ von Joseph Haydn. Der Abschied war voller Schmerz.
Beethoven war bei der Uraufführung seiner 9. Sinfonie taub, die Sopranistin musste ihn erst umdrehen, damit er den Beifall sehen konnte, den er nicht mehr in der Lage war, zu hören. Hier in Irsee hörten die Zuhörer die Spiritualität der Musik und die Ausführenden den Beifall. Wer ist hier taub?