Es fällt auf, dass seit einigen Jahren immer mehr Festivals mit Neuer Musik entstehen: nicht in den Ballungszentren des Musiklebens, sondern an kleinen, oft idyllischen Orten in angenehmen Landschaften, wo sich die Begegnungen von Künstlern und Publikum in entspannter Atmosphäre vollziehen. Rümlingen, Ulrichsberg, Schreyahn und das österreichische Schwaz mögen als Beispiele dienen. Aber auch die Komponistenporträts in Weingarten entwickelten sich immer mehr zu informativen Darstellungen unterschiedlichster Komponierhandschriften – in diesem Jahr weilte Walter Zimmermann dort.
Es fällt auf, dass seit einigen Jahren immer mehr Festivals mit Neuer Musik entstehen: nicht in den Ballungszentren des Musiklebens, sondern an kleinen, oft idyllischen Orten in angenehmen Landschaften, wo sich die Begegnungen von Künstlern und Publikum in entspannter Atmosphäre vollziehen. Rümlingen, Ulrichsberg, Schreyahn und das österreichische Schwaz mögen als Beispiele dienen. Aber auch die Komponistenporträts in Weingarten entwickelten sich immer mehr zu informativen Darstellungen unterschiedlichster Komponierhandschriften – in diesem Jahr weilte Walter Zimmermann dort. Die meisten dieser neuen Festivals bieten eine sinnvolle und auch notwendige Ergänzung und perspektivische Erweiterung bestehender Einrichtungen wie etwa den Musiktagen in Donaueschingen oder den Kammermusiktagen in Witten. An den neuen Stätten der Gegenwartsmusik trifft man auch auf eine erweiterte Neugier, beim Publikum und bei den Künstlern selbst. Man probiert vieles aus, schlägt Brücken zu den anderen Künsten, zu Literatur, zur Malerei, zu Film und Video. Die kleineren Dimensionen der Veranstaltungen erlauben eine höhere Beweglichkeit bei den Inhalten. Man denkt sich deshalb anscheinend schneller und couragierter etwas Neues aus, kommuniziert auch direkter und spontaner mit einem aufgeschlossenen Zuhörerkreis, der sich aus vielen Berufszweigen zusammensetzt, der sich jedoch in einem einig ist: in der Offenheit und Unvoreingenommenheit dem Neuartigen gegenüber. Das kommunikative Element unter allen Beteiligten tritt stärker hervor, wirkt produktiv in die Rezeption des Neuen hinein. Diese Regionalisierung bringt der Neuen Musik zusätzlichen und wichtigen Gewinn: einen neuen Besuchertypus, der nicht wie ein professioneller Musik-Tester in Donaueschingen die neuen „Modelle” kühl registriert und kritisch bewertet, sondern der die Novitäten auch emotional zu erfahren versucht. Das ist immerhin eine neue, fast unerwartete Qualität für die Aufnahme Neuer Musik.In solche veränderten Ambiencen muss man auch das „rendez-vous musique nouvelle” im lothringischen Forbach einstellen, das in diesem Jahr zum siebten Mal stattfand, allerdings eine erheblich längere und ruhmreiche Vorgeschichte aufzuweisen vermag: Es entstand aus dem Ende der berühmten Metzer „Rencontres de la musique contemporain”, die nach zwei Jahrzehnten glanzvoller Arbeit anno 1993 abrupt wegen einer lächerlichen Zuschusssumme förmlich abgewürgt wurden – ein Akt kulturpolitischer Barbarei in einem Land, das sich sonst gern als große Kulturnation feiern lässt. Der Komponist Claude Lefebvre, Gründer und Leiter des Metzer Festivals, ließ sich jedoch nicht gänzlich entmutigen. Ermuntert von ei-nem kunstverständigen Bürgermeister gründete er in Forbach, einem kleinen Industriestädtchen zwischen Saarbrücken und Metz nahe der deutschen Grenze, das „rendez-vous musique nouvelle”.
Das Städtchen ist nicht groß (27.000 Einwohner) und nicht eben reich: Die alten Industrien, die Kohleförderung liegen brach, mit neuen Produktionen möchte man wieder Anschluss an die industrielle Zukunft gewinnen. Ein offensichtlich intelligentes Stadtoberhaupt weiß, dass zu solchem Gelingen auch ein entsprechendes Lebensumfeld für die Menschen der Region (etwa 100.000 Bewohner) erforderlich ist. Dazu gehört auch eine entsprechende kulturelle Struktur. Ein modernes, geradezu schickes neues „Centre d’Animation Culturelle” mit einem großen Theater- und Konzertsaal bietet den Bürgern eine würdige und festliche Versammlungsstätte. Vor den Toren der Stadt, auf dem Gelände einer stillgelegten Kohlenmine, entstand in einer Riesenhalle, der einstigen Kohlenwäscherei, ein Kulturzentrum, das vielfältige Nutzungen gestattet. Auch Kirchen zählen zum Raumangebot sowie ein moderner Saal im alten Burghofareal. Damit lässt sich schon einiges anfangen.
An Programmideen fehlt es Claude Lefebvre und seiner Mitstreiterin Inge Borg nicht, eher an, wie könnte es anders sein, finanzieller Ausstattung. Immerhin gibt es enge Kontakte mit Saarbrücken und dem dortigen „Netzwerk” kultureller Institute: Saarländischer Rundfunk mit dem Sinfonieorchester, Musikhochschule, Staatstheater, Museum. Claude Lefebvre hält an der Musikhochschule Kurse über Elektronische Musik, die Kooperation funktioniert also und bringt beiden Seiten Vorteile, die auch dem Forbacher Festivalprogramm zum Vorteil gereichen.
Auch diesmal gab das Saarbrücker Rundfunk-Sinfonieorchester unter Pierre-André Valade im Centre Culturelle ein Konzert mit Werken von Grisey, Ravel, Kagel sowie einer Uraufführung: der Zender-Schüler Hans Thomalla, 1975 in Bonn geboren, schrieb zwischen 1999 und 2002 das Werk „Affirmation/Auslöschung...”. Lebhafte Kontrastierungen zwischen einem prägnant-solistischen Streichtrio und einem mit Klavier, Hammerklavier und E-Gitarre angereicherten symphonischen, eher flächigen Orchesterklang verbinden sich mit über Zuspielband hinein gesprochenen Texten von Rainald Goetz und Helmut Lachenmann, die Untersuchungen komponierender Jugendlicher beziehungsweise gesellschaftskritische Funktionen von Musik behandeln. Der Titel verweist schon auf die Bewegungen, die sich in der Komposition vollziehen: Musikalische Strukturen werden „ausgelöscht”, auch ins „Stereotype” überführt. Das liest sich ziemlich abstrakt, führt aber denn doch zu einer Musik von bemerkenswerter Innenspannung und gestischer Beredtheit, plastisch vorgetragen vom Orchester und Valade. Großartig gelangen Griseys „Le temps et l’écume” für Schlagzeuger, Synthesizer und Kammerorchester sowie Kagels „Broken chords” für Orchester als französische Erstaufführung. Und Ravels Klavierkonzert für die linke Hand (Solist: Jean-Efflam Bavouzet) ist, so perfekt gespielt wie hier, einfach ein herrlich modernes Stück Musik.
Für zwei Konzerte war das Frankfurter „ensemble belcanto” von Dietburg Spohr nach Forbach eingeladen worden. Überwältigend die Wiederbegegnung mit Karlheinz Stockhausens „Stimmung”, im Jahre 1968 für sechs Vokalisten komponiert und seit der Uraufführung 1969 kaum mehr im Konzertsaal erschienen. 75 Minuten fließen die vokalen Lineaments vibratolos durch den etwas zu halligen Kirchenraum, umhüllen gleichsam die Liebespoesien des Komponisten, für den „wahre Liebe” nur zwischen Mann und Frau entstehen kann, weshalb sich die sechs Gesangspartien auch paritätisch zwischen männlichen und weiblichen Sängern aufteilen sollen – wenn natürlich, wie hier geschehen, einer erkrankt, dann muss man eben auch ein Übergewicht, diesmal des weiblichen Prinzips, hinnehmen. Der Wirkung tat es keinen Abbruch. Bewundernswert, wie die „belcanto”-Sänger die Innenspannung der „unendlichen” Gesangslinien durchhielten, wie sie das Non-vibrato gleichwohl mit einer äußerst sensiblen Expressivität zu verbinden wussten, die einen das Werk bei aller Kompliziertheit und Komplexität zugleich auch wunderbar emotional erleben ließ. Eigentlich hatte der späte Stockhausen mit diesem frühen Werk schon alles komponiert. Der zweite Abend des „belcanto ensembles” brachte neben Luigi Nonos „donde estás, hermano” und Wolfgang Rihms „Séraphin/ Stimmen” (beides ausgezeichnet interpretiert) zwei Uraufführungen: Art-Oliver Simons (Jahrgang 1966) „zdarzenie” („Ereignis”) für sechs Frauenstimmen und Sergej Newskis (1972 in Moskau geboren) „generator” für vier Frauenstimmen (Klavier ad libitum). Beide Werke entstanden für das Ensemble.
Simon verarbeitet ein kurzes Gedicht, das er auf Polnisch verfasste, fragmentarisch in die vokale Struktur, löst die Textur schließlich in Vokale oder Konsonanten auf, die eine eigene sprach-klangliche Sphäre schaffen. Ein wenig getüftelt wirkt das Jonglieren mit Bedeutungen wie Distanz, Verblendung oder Warten auf das Morgen sowie deren Überführung in Klangsprache schon. Interessanter und griffiger daneben das Stück von Newski: Fragen der Distanz auch hier. Krasse Realistik, vom Foto erfasst, gewinnt im Abbild Form. Wie übersetze ich das krasse, Form gewordene Bild in Musik, in Stimmklang? Adäquate Ausdrucksmittel sind Stottern, Murmeln, Verzerrung der Stimme, innerer Monolog. Emotionales tritt hinzu: Angst, Wut, stimmliche Expression. In dieses komplexe Wechselspiel wird auch das Publikum hineingezogen. Es wird förmlich gezwungen, sich innerlich irgendwie zu engagieren. Ein Werk also, das auf mehreren Ebenen agiert. Die Belcanto-Vokalistinnen sind für derart Kompliziertes bestens trainiert.
Die Franzosen lieben geradezu die Animation. In Metz bildeten diesbezügliche Veranstaltungen einen Schwerpunkt des Festival. In Forbach setzt Claude Lefebvre diese Tradition fort. Der riesige Technik-Raum der ehemaligen Kohlenwäscherei ist dafür der rechte Ort. Eiserne Brücken und Stege überall im Raum, dazwischen und darunter die Aktionen und das Publikum. Am Vormittag werden hunderte Kinder in die Welt von Video und Elektronik eingeführt, abends versammeln sich dann die Erwachsenen. Die Groupe de recherches musicales Paris ist in ihrem Element. Musik und Video heißt die Devise. Christian Zanési und Véronique Moysset (Metallische Konstruktionen) und Ludger Brümmer („ronos“) experimentieren fantasievoll mit den diversen Ausdrucksmitteln. Dann fährt der Argentinier Daniel Feruggi (Jahrgang 1952) die große Raum-Klang-Oper auf: fünf Schlagwerker auf den vorderen Podesten, Elektronik, Bilder aus der Arbeitswelt des Ortes, schließlich noch eine Harmoniemusik, die alte Bergwerkskapelle, jetzt mit vorwiegend jungen Leuten besetzt. Der Titel der „Oper” heißt „Lavoir à sons”, eigentlich müsste er „Forbach” heißen. Feruggi komponierte das „Klangbad” für die Stadt, ihre Geschichte, Gegenwart und: Zukunft. Wo soviel Vitalität auszubrechen vermag, geht das Leben bestimmt weiter, auch wenn der Weg noch so beschwerlich sein mag. In Forbach ist das Festival der Neuen Musik vielleicht am engsten mit der Stadt und ihren Bürgern verbunden. Eine gute Verbindung.