Der Widerhall in den überregionalen Medien auf das Münchner Festival zum 100. Geburtstag des am 8. Dezember 1919 in Warschau geborenen und am 26. Februar 1996 in Moskau verstorbenen polnisch-jüdischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg war überwältigend. „Trotzdem klafft zwischen dem vermeintlichen Bekanntheitsgrad seines Namens und dem von Weinbergs kompositorischem Schaffen ein riesiger Unterschied,“ relativierte Daniel Grossmann, künstlerischer Leiter des Jewish Chamber Orchestra Munich und Initiator des Festivals, das vom 20. bis 26. Mai stattfand.
Die Aufführungsorte standen aussagekräftig für das Schicksal des Komponisten in der zerrissenen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das Auditorium im NS-Dokumentationszentrum, die Münchner Kammerspiele, das Neue Rottmann-Kino und Schloss Elmau. Aber maßgebliche Akteure des Münchner Musiklebens fehlten bei diesem Festival: Staatsoper, Gärtnerplatztheater, Gasteig, Pinakothek der Moderne, Bayerische Akademie der Schönen Künste – alle nicht dabei und Protagonisten der Neuen-Musik-Szene Münchens ließen sich kaum sehen bei den immer mit langem Applaus endenden Konzerten. Warum dieses lokale Desinteresse an Weinberg, dessen zweite Sinfonie und 21. Kammersinfonie kurz vor dem Festival mit Gidon Kremer, dem City of Birmingham Symphony Orchestra und der Kremerata Baltica unter Mirga Grazinyte-Tyla auf CD herauskam? Daniel Grossmann dazu: „Die Rezeption muss unbedingt heraus aus dem übergroßen Schatten, den sein Freund und Förderer Schostakowitsch nach wie vor über Weinberg wirft. Außerdem gehört er nicht zu Komponisten wie Victor Ullmann, die in Konzentrationslagern umkamen, oder Berthold Goldschmidt, der den Holocaust überlebte und im Alter späte Erfolge feiern konnte. Die Biographie Weinbergs, der gegen Ende des Stalin-Regimes kurze Zeit ins Gefängnis kam und Verfolgungen des Sowjetapparats ausgesetzt war, wirkt auf die Nachwelt weit weniger spektakulär.“
Nur einen Bruchteil von Weinbergs Schaffen mit 21 vollendeten Sinfonien, sechs Opern, viel Kammer- und Vokalmusik bis zu Zirkus- und Filmmusiken konnte man in München erleben, wo man den Schwerpunkt auf zum jetzigen Zeitpunkt als untypisch betrachtete Werke Weinbergs setzte. Das ist wichtig: Denn in seinem musikalischen Vermächtnis gibt es nicht nur lastende Requien und Elegien, sondern auch Scherzi und Tänze. Kompositionen also, die neben den musikalischen Manifesten stehen, mit denen Weinberg die Trauer über den Tod seiner Familie nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen bewältigen wollte. Weinbergs kompositorischer Kosmos geht weit über biographische Betroffenheit hinaus.
In der mit einem riesigen Engagement für nur eine einzige Vorstellung in den Münchner Kammerspielen gestemmten Produktion von „Lady Magnesia“ erweist er sich sogar als gewitzter musikalischer Global Player, für den der Tod von einer leiblichen zu einer metaphorischen Bedrohung wird. Die bis dahin nur beim Liverpool Festival und an der Oper Erfurt aufgeführte Kammeroper aus dem Jahr 1975 zeigt eine ganz andere Facette Weinbergs als „Die Passagierin“, die subtile Gegenüberstellung einer KZ-Aufseherin und eines ihrer Opfer 15 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs: In Weinbergs Libretto zu „Lady Magnesia“ nach George Bernard Shaws Farce „Passion, Poison and Petrification“ erstarrt Adolphus, der Diener und Liebhaber der Titelfigur, nach dem Verzehr von Gips zu Tode und hält versteinert seine schützende Hand über den um Haaresbreite geretteten Ehesegen von Magnesia (Susanne Bernhard) und Sir George FitzTollemache (Juan Carlos Petruzziello). Mit intensiven Farbgemischen von Licht, Projektionen und Video arbeiteten die Regisseurin Miriam Ibrahim, und die Ausstatterin Nicole Wytyczak, setzten als Prolog einen Techno-Loop von Giovanni Berg über eine Arie von Lully und das Solo Adolphus’ (Petro Ostapenko). Die Handlung eine Dancefloor-Phantasie? Die Sänger gleiten nach dem langen Beginn hinein in die Partitur, in der Weinberg von Les Six über formale Spielereien à la Prokofjew bis zu hier ironisch wirkender Zwölftönigkeit und einer vorgeschriebenen E-Gitarre kaum etwas auslässt. In „Lady Magnesia“ serviert Weinberg ein deftiges Allerlei, der komponierende Humanist gibt sich als mit Tod und Bedrohung kokettierender Hasardeur: Sprunghaftigkeit ist sein Kontrapunkt zur Bekenntnismusik wie der vor kurzem in Gera aufgeführten sechsten Sinfonie mit Chören für die Opfer der Verfolgungen vor 1945.
Mehr empfunden als gestaltet kommt im Orchesterkonzert das erste Flötenkonzert op. 75 von 1961 daher – in freier Tonalität, kantabel, mit Rumoren aus den tieferen Stimmen. Das Jewish Chamber Orchestra Munich und die Flötistin Noémi Györi agieren mit etwas zu großem Vertrauen auf ihre deutlich vernehmbaren Weinberg-Kompetenzen. Wie in der Kammersymphonie Nr. 4 ist spürbar, dass es mit geradliniger Vertrautheit bei Weinberg so wenig getan ist wie mit versuchter Neutralität bei dessen emotionalen Flächen. Einen kompositorischen Ausnahmerang Weinbergs kann man hier schwerlich entdecken, weil der Vitalität des Eröffnungsstücks kaum etwas gleichgewichtig Mitreißendes folgen kann: Die leicht nachlässige Haltung gerät in der „Rhapsodie über moldawische Themen“ sogar zum Vorteil – ein sattes und vom Violinsolisten Sándor Galgóczi mit dionysischer Vitalität vergröbertes Stück auf den Spuren Koállys.
Michail Kalatosows „Die Kraniche ziehen“ (1957) zählt in Russland zu den wichtigen Spielfilmen über die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf Einzelschicksale, hierzulande ist er nur Cineasten bekannt. Weinberg gibt darin dem Komponisten Mark, der die Verlobte seines der Armee beitretenden und im Krieg fallenden Bruders Boris liebt, eine wenig bewegende, fast neutrale Musik und entzieht sich so einer nonverbalen Wertung der Figuren. Eine Erkenntnis bei diesem Festival ist, wie schlicht und schnörkellos Weinberg auch in anderen Werken als „Die Passagierin“ musikalisch zu erzählen versteht. Ein Teilziel hat das Jewish Chamber Orchestra Munich erreicht: Der Blick auf den Jubilar weitete sich in diesen Festival-Tagen beträchtlich. Diese Erschließung ist hoffentlich nur ein Anfang. Denn noch fehlt es offenbar aus Pietät noch am Mut, Weinbergs Partituren mit jener Kontrastschärfe aufzuführen, die sie haben. Das Leipziger Gewandhaus folgt mit einem „Fokus Weinberg“ vom 16. Oktober 2019 bis zum 15. Februar 2020.