Das Erleben des Raumes stand im Zentrum der mannigfaltigen Konzerte beim NOW-Festival in Essen. Zuende ging die jüngste Ausgabe dieses ambitionierten Festivals für zeitgenössische Musik mit einer weiteren großen Raumklang-Inszenierung – seitens eines anderen Befreiers der Klänge aus bis dahin verbindlich scheinenden Konnotationen: Iannis Xenakis.
Die experimentelle Kompositionskunst des gebürtigen Griechen, der in Paris lebte und maßgeblich von Messiaen beeinflusst wurde, bezieht auf kolossale Weise außermusikalische Erkenntnismethoden mit ein: So nährten mathematische Konstrukte, aber auch mannigfaltige Erfahrungen aus intensiver Natur- und Wirklichkeitsbeobachtung seine kompositorische Fantasie. Und die mutet manchmal noch kühner und exotischer an als bei seinem „Kollegen“ Karlheinz Stockhausen, der dass Festival drei Wochen zuvor eröffnet hatte.
Hat man als Zuhörer im Parkett des Essener Alfried-Krupp-Saales Platz genommen, fühlt man sich fast wie ein Orchestermusiker – mit „Pultnachbarn“ neben sich, die Tuba oder Cello spielen, oder mit Holzblöcken, Maracas, Peitschen oder kleinen gellenden Sirenenpfeifen eine grelle Geräuschwelt entfesseln. Man würde so gerne dabei mitmachen. Und auch, den Dirigenten Rüdiger Bohn mal frontal oder von der Seite im Blickfeld zu haben, erzeugt schon visuell ein ganz neues Gefühl des „mittendrin-sein“.
Und wie das ganze erst klingt unter diesen Bedingungen! Xenakis Komposition „Terretektorth“ will den Zuhörer quasi als teilnehmenden Part mitten in das ganze hineinziehen – umringt von 88 bis 98 Musikern ist er mittendrin in einer Klangskulptur, die durch diese räumliche „Surround-Beschallung“ zugleich auch mitten im Kopf zu leben beginnt. Für so etwas sorgen zuverlässig die Duisburger Philharmoniker mit ihren raumfüllenden Klangbögen, die oft aus einzelnen Tönen oder perkussiven Geräuschkaskaden hervor gehen und sich zu elektrisierenden akustischen Spannungsfeldern ausbreiten.
Doch alles wird noch extremer und radikaler bei dieser Xenakis-Hommage. Noch bedrängender wird die akustische Architektur im Perkussionsstück Persephassa (PercussionsEnsemble „MP“ des Essener Schlagzeugers Michael Pattmann). Jetzt haben sechs Schlagzeuger im Halbrund oben auf den Galerien Position bezogen, spielen synchron, asynchron, bewegen sich mit ihren Strukturen und Texturen voneinander weg und wieder aufeinander zu – mit gewaltiger Lautstärke und extremer Energie. Es ist ein polternder, pochender Tumult, der nicht zuletzt eine eigenwillige dunkle Magie in den Essener Musentempel zaubert.
Geschickt eingestreut findet sich ein „Kontrastprogramm“ -ebenfalls im Jahr 1968 komponiert und daher aus einem Zeitkontext kommend, in welchem ästhetischer Aufbruchsstimmung mit Lust an der Revolte herrschte und neuer Diskurse über die Gegenwart und damit auch über die Kunst erwachten: Witold Lutoslawski „Livre pour orchestre“ führt in Essen mit sensiblen Flächenklängen auf eine wirkungsmächtige Reise nach innen und das ist ein Kontrast nach der extrovertierten Wucht bei Xenakis. Streicherflagoletts evozieren sirenenhafte Glissandi, dann breitet sich ein schillerndes Spiel aus, in dem sich Lichter brechen, Dunkelheit und Blendeeffekte miteinander einhergehen. Und im Gegensatz zu den Geräuschwelten eines Xenakis lebt hier auch sehr viel sinfonischer Farbenreichtum. Eben weil Rüdiger Bohn hier den Streicherklang klug zu dosieren weiß.
Das Finale knüpft wieder an den Beginn dieses außergewöhnlichen Sonntagvorabends in der Essener Philharmonie an: Wieder müssen Sitzaufstellungen verändert werden, wieder taucht man allumfassend in einen akustischen Sog ein, der doch so oft an diesem Abend allerhand Erscheinungen aus unserer natürlichen Umgebung in orchestrale Klangfarbenmelodien übersetzt – etwa wenn sich die Vielfalt der Alltagsgeräusche aus dem urbanen Kontext zu einem vagen Brausen vereinen. „Nomos Gamma“ von Iannis Xenakis führt gewissermaßen These und Antithese zur Synthese mit 98 Musikern und dem Publikum mittendrin: Da lassen brachiale Perkussionsgewitter seitens acht Schlagzeuger, die berserkerhaft auf ihren Standtoms wüten, das Gestühl und die Trommelfelle beben – „dazwischen“ lodert, brandet und gleißt der Orchesterklang. Im Gegensatz zu Lutoslawskis Spiel mit dem Zufall ist die Kakophonie bei Xenakis eine durch und durch geplante.