Seit Hans Werner Henzes „Landarzt“ (1951) und Gottfried von Einems „Prozess“ (1953) üben Erzählungen und Romane Franz Kafkas auch auf Komponisten unverminderte Anziehungskraft aus. Das jüngste Ergebnis erlebte kurz vor dem Totensonntag im großen Geraer Haus des Theaters Altenburg-Gera seine Uraufführung: Johan Maria Rotmans Oper „Die sechste Stunde“ frei nach der Erzählung „In der Strafkolonie“ von Franz Kafka.
Der Librettist Gerard Harleman stand vor dem schwer lösbaren Problem, die im Grunde aus einem inneren Monolog bestehende, bis in Einzelheiten genaue und ausführliche Erzählung in knappe Worte, Bilder und Aktionen zu fassen.
Denn alles Wesentliche dieser 1914 entstandenen Erzählung wird einem (imaginären?) Reisenden von einem Offizier der Strafkolonie erzählt, der für eine Foltermaschine und die Hinrichtungen im Lager verantwortlich ist: die Charakterisierung des alten Lagerkommandanten und Konstrukteurs der furchtbaren Foltermaschine, die grausige Art der sechs Stunden währenden Hinrichtungen ohne Prozess zum Tode Verurteilter. Für den seit der Berufung eines neuen Kommandanten unsicher gewordenen Offizier genügen aber wenige Fragen des für einen Inspekteur oder Forscher gehaltenen Reisenden und dessen Weigerung, über die Vorgänge zu schweigen, um in der sechsten Stunde den jüngst Verurteilten plötzlich freizulassen und sich selbst in der Maschine zu richten.
Die Oper setzt diese Beschreibungen als bekannt voraus und begnügt sich zur Charakterisierung des alten Kommandanten wie des Offiziers mit protzig gesungenen Phrasen wie „Schönheit... Kraft... Stahl, Rückgrat, in reiner Form geschaffen... klare Tinte, rote Tinte, Soldatenblut... Schuld steht immer fest...“ Andererseits drücken nur wenige Worte die Angst des Offiziers aus. So wirkt die plötzliche Freilassung des Verurteilten und der Selbstmord des Offiziers wenig motiviert. Da hilft auch die von den Autoren erfundene Fremde mit ihren anklagenden Worten nicht viel. Diesem Mangel begegnet die Inszenierung, indem der Reisende als Reporter unentwegt in allen möglichen Stellungen seine Videokamera betätigt und so die Ängste des Offiziers verstärkt.
Da ist es gut, dass dem Theaterbesucher mit dem Programmheft in handlicher Form und preiswert auch das Libretto und die Erzählung Kafkas angeboten werden (wie das Aufführungsmaterial vom kleinen Leipziger Ebert-Musikverlag EMV hergestellt).
Außer der Fremden fügten die Autoren auch zwei Chorgruppen in das Geschehen ein. Sechs Männer (in schwarzen kurzen Hosen und weißen Kniestrümpfen) besingen stupide zustimmend die Zustände in der Strafkolonie. Sechs Frauen (in Dirndl-Kleidern, mit langen Zöpfen) fordern in der Manier hysterischer Nazissen: „Sehen wollen wir Opfer... Täter sehen bei der Arbeit“.
Mit verändertem Charakter agiert der Verurteilte. Den beschreibt Kafka als zermürbtes, willenloses Subjekt. In der Oper kriecht er schnell in die Uniform des Offiziers und prahlt: „Jetzt bin ich wer“. Die Berufung auf Befehle aktualisiert gewiss das Geschehen, doch die Schärfe der Kafkaschen Anklage erreicht dieser Text schwerlich.
Der entspricht eher die Musik Johan Maria Rotmans. Der Text wird über weite Strecken deklamatorisch behandelt. Sperrige Intervallführungen schaffen dabei den Kafkaschen Intensionen nahe kommende Spannung. Die fördert auch die auf drei getrennt postierte Instrumentalgruppen aufgegliederte Instrumentation (I: Hörner, Oboen und Fagotte, II: Schlagwerk, Klavier und Harfe, III: Streicher). Der Gesamteindruck erweist sich aber als zwiespältig. Doch fordert das Ganze auf alle Fälle zum Nachdenken heraus.
Für die Inszenierung dieser Uraufführung gewann das Theater mit Johann Kresnik einen Künstler von außergewöhnlichem Format. Der beginnt die Vorstellung mit Türen knallen: Die Fremde auf der einen Seite und deren von Kresnik erfundenes tänzerisches Alter Ego (Daniela Greverath) auf der anderen stürzen schwarz gewandet (Ausstattung: Constanze Kümmel und Lucia Schautz) mit den Worten „Sehen möchte ich Bilder“ in den Zuschauerraum. Wie dabei die Tänzerin sich durch und über die Stuhlreihen des ausverkauften großen Geraer Hauses zwängen muss, ruft stummen Protest betroffener Theaterbesucher hervor. Doch dann geht es ohne Störungen weiter. Zunächst verschließt ein hoher Bretterzaun die Bühne. Wenn der sich nach den Vorderseiten öffnet, verschließt ein weiterer zwischen hohen Zementsäulen die Hinterbühne und die Seiten.
Das Geschehen bestimmt zu einem großen Teil die fantasievolle Gestaltung pantomimischer Vorgänge. Die für Sopran geschriebene Partie des Offiziers und den Koloratursopran des Kommandanten versteht Kresnik aber nicht als Überspitzung dieser fragwürdigen Gestalten, sondern nutzt er, um den Offizier als überdrehtes Frauenzimmer und den Kommandanten als dicke Vettel, im Schlussbild mit nacktem Hängebauch von beträchtlichem Ausmaß vorzuführen. Da kommt unangebrachte Komik auf, wo es blutig ernst zugeht.
Einem Theater wie Altenburg-Gera als Auftraggeber stellt eine derartige Uraufführung außergewöhnliche Aufgaben. Das Opernensemble Altenburg-Gera widmet sich ihnen mit großem Einsatz und beachtlichem Können.