„Wofür wir kämpfen“ lautet das Motto 2024 des größten Avantgarde-Festivals in den neuen Bundesländern. Das Kunstfest Weimar setzt vom 21. August bis zum 8. September mit einer Flut von politisch implizierten Manifesten eindeutige Bekenntnissignale zu den freiheitlichen Werten und Rechten der deutschen Verfassung. Um die Landtagswahlen in Thüringen am 1. September bietet das landes- und bundesweit ausstrahlende Festival unter Leitung von Rolf C. Hemke mit Tanz, Konzert, Schauspiel, Kunst, Diskurs, Musiktheater, Performance, Literatur und Film ein buntes, bildungsakzentuiertes und künstlerisch hochambitioniertes Programm. Die Eröffnung fand mit vielen Gästen aus Politik, Wissenschaft und Kultur statt – im Bauhaus- Museum, in der Herderkirche, auf dem Theaterplatz und in der Redoute des Deutschen Nationaltheaters.
Klare Werte und harte Melancholie: Das Kunstfest Weimar begann am 21. August
Was haben die russische Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa und die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv gemeinsam? Beide denken dialektisch in Zeiten des Krieges und des sich ausbreitenden Populismus. Scherbakowa, eine zentrale Person des 2022 in Russland aufgelösten MEMORIAL für Aufklärung, Menschlichkeit und soziale Fürsorge, kuratierte mit Philipp Dzyadko und Volkhard Knigge die zu Beginn des Kunstfest Weimar eröffnete Ausstellung „Das andere Russland“ im Bauhaus-Museum. Bei dieser Erinnerung an mindestens 18 Millionen im Gulag geschundene Menschen geht es auch um die Information der Bürger im Putin-Russland und weltweit. Norbert Frei, Historiker mit profunder Thüringen-Expertise, hielt beim traditionellen Konzert mit Erinnerung an die Opfer des ‚Dritten Reiches‘ in der Herderkirche die Gedächtnis-Buchenwald-Rede. Er nannte die Information von radikalisierten Gruppen das allerwichtigste Instrument zur Überwindung antidemokratischer Attacken und Offensiven. Solche Gedanken und Informationsanalogien wird es in zentralen Beiträgen des Kunstfest auch über KI und andere überwiegend pessimistische Szenarien geben. Kultur und die Freiheit der Kunst – so akzentuierte Scherbakowa am Kunstfest-Eröffnungstag mehrfach – haben eine große Kraft, die in totalitären Systemen durch Eingriffnahme beeinträchtigt wird.
Auch Oksana Lyniv denkt differenziert. Einerseits setzt die international gefeierte Dirigentin, wo es geht, ukrainische Kompositionen auf ihre Programme, um das nationale Schaffen ihres Heimatlandes aus der langen, historisch bedingten Suprematie Russlands zu holen und international bekannt zu machen. Andererseits wird Lyniv nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine in ihrer Heimat kritisiert, weil sie den Rang russischer Kulturschöpfungen weiterhin würdigt und sich nicht am Bashing gegen diese zum Ausdruck nationaler Emanzipation gegen Russland beteiligt. Mozarts „Requiem“ führte Lyniv mit dem Opernchor und Solisten des DNT auf. Heike Porstein, Sayaka Shigeshima, Taejun Sun und Guido Jentjens glänzten in den mit hoher Sensibilität genommenen Solo-Quartettsätzen. Die Stimmen aus Thüringen und das seit dem Exil in Monheim beheimatete Kyiv Symphony Orchestra vereinigten sich zu einer zutiefst eindringlichen Wiedergabe von Mozarts Fragment mit Monumentalität und lyrischer Ausdruckskraft.
Auf das von Volkhard Knigge gelesene Grußwort des Holocaustüberlebendern und Präsidenten des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora Naftali Fürst folgte die deutsche Erstaufführung von Paul Celans „Todesfuge“ als Konzert für Geige, Sprecher und Orchester. Das Werk des ukrainischen Komponisten Evgeni Orkin (geb. 1977) erlebte seine Uraufführung bei den Wiener Festwochen 2024. Widmungsträger des von dem luxemburgischen Schauspieler Steve Karier mit glaubhafter Empathie, weil wenig Pathos vorgetragenen Celan-Textes und dessen strophischen Formen um „Der Tod ist ein Meister ein Deutschland“ ist der mitwirkende Sologeiger Andrii Murza. Das Opus erhielt hohe Zustimmung des Publikums. Orkins Griff in die überwiegend romantischen Mittel von Kolorit wirkt zutiefst empfunden. Die Komposition beginnt mit elektronischen Störgeräuschen, dann einem Radiowellen-Salat aus Wagner-Motiven und einer Schlager-Melodie der NS-Zeit. Dann viel abgründige Melancholie durch verweigerte Effekte: Die Intensität gemahnt an Mahler, die gestische Klarheit der Faktur an Mieczysław Weinberg. Orkins Melodiefragmente, Motivik und dunkle Rhythmik haben einen vorsätzlich zähen Fluss. Der Komponist widersetzt sich aufgesetzter Dramatik. Die Solovioline bewegt sich fast immer durch mittlere Lagen, was jede Flucht in Lieblichkeit zunichte macht. Murza kann sich also einen üppigen Ton leisten. Lyniv begrenzte ebenfalls emotionales Ausufern, indem sie das mit der Partitur bereits vertraute Kyiv Symphony Orchestra in klaren, weichen Gesten durch die synkopisch vertrackte Partitur lenkte. Trotzdem: Der Gang durch die tödliche Dämmerung blieb trostlos trotz Härte-Minimierung.
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